360. Schritt
Kürzlich hörte ich vom Freund eines Freundes, er sei, vom Vetter eines Vetters auf eine Literatur-Preisverleihung aufmerksam gemacht worden, wo der Bruder eines Schwagers prämiert werden sollte.
Nein, nicht der selbst, sondern ein ähnlicher Text, aus einer Feder, die auch der Vetter eines Bruder-Schwagers besessen haben könnte. Dieser Text, ein sogenanntes Gedicht, glaube ich, sei aber nicht woanders abgeschrieben, sondern direkt, getreu einer offiziellen Verlautbarung über die Richtlinien zu verfassender Texte, Stücke, Romane und dergleichen, aufgesetzt worden.
Dies allein, so erklärte mir der Vetter eines Freundes stichhaltig, hätte jedoch nicht alleine ausgereicht, um vom Freund eines Vetters dann auch vorgeschlagen zu werden. Man müsse schon der Freund eines befreundeten Vetter-Schwagers sein, um wirklich fraglos infrage zu kommen, meinte daraufhin der Vettersvetter, welcher die Laudatio auf eben diesen Schwager des betreffenden Vetters hielt.
Selbstverständlich richtete er sich und seine, auf keinen Fall stereotypen, oberfreundlichen, schon 1000mal in ähnlicher Weise gehörten, Schleim-Worte, hauptsächlich treusorgend, an den, von allen Freunden, Schwägern und Vettern aufgestellten Grundsätzen aus.
Jener Vorgang, Vettern, Freunde, Schwäger und Vetternfreunde kräftig zu loben, fand in Vetternhausen an der Freundin, nahe der gleichnamigen Wirtschaft „Zum Vetter“ statt. Zwischenrufe wie „Alles Vettern oder was?!“ waren jedoch nicht gestattet!
Mich hatte man ungefähr zeitgleich verhaftet, nachdem ich mich vorher freiwillig aus dem Geburtenregister gestrichen und an die Stelle „Abort“ eingetragen hatte. Nun saß ich gefesselt und geknebelt vor dem Untersuchungsrichter, einem Hobby-Psychologen aus Lachstadt an der Pfütz, der mich bauschbögig ignorieren sollte.
Verzweifelt versuchte ich auf seine nichtgestellten Fragen zu antworten: „Mhmmhmhm, mhmmpf hmhm!“ sagte ich, beruhigte mich aber, als ich feststellte, daß er sich ausschließlich mit den Akten befasste. Ich hatte dabei den unbestimmten Verdacht, er lege ständig etwas hinzu.
Deshalb warf ich mit guten Blicken um mich, doch alle auf die sie trafen, senkten gehorsam das Haupt. Da ich länger schon einwandfrei Gedanken lesen kann, wusste ich sofort was sie meinten: „Nein, da ist kein Untersuchungsrichter, kein Knebel, keine Zwangsjacke, da ist nur die Wirtschaft voll von Vettern – und du bist total besoffen!“
„Aha!“ dachte ich zurück, „und warum sieht mich dann keiner?“ „Weil du eben nicht da bist!“ hörte ich die Gedanken der anderen. „Du bist bestenfalls durchsichtig! Bist du dir denn überhaupt sicher, daß du Eltern hattest?“
Ich schüttelte… . Nicht meinen Kopf, denn ich hatte sie ja noch gekannt, nicht den Staub aus dem Kittel, denn unter der Zangsjacke fühlte ich mich splitternackt und auch nicht die Schuppen von den Augen, denn ich konnte von jeher so klar sehen, daß sogar amtliche Hoch-Nebelfelder für mich kein Problem darstellten. Nein, ich schüttelte nur jemanden ab.
Einen, der gar nicht da war, weil unter anderem aber vor allem schlichtweg undenkbar, einen, der präsenter als ein wandelnder Mülleimer und fröhlicher als der Dreck auf der Straße, in einer Anstalt saß, wo er aß, schlief, zu arbeiten glaubte, atmete: mich!
Dann ging die Sonne hinter dem Mond unter, hin und her, auf und ab, drunter und drüber – wobei ihre betont-gravitätischen Schritte tiefe Meteoriten-Einschläge auf meiner für wahnsinnig gehaltenen Seele hinterließen.
©Alf Glocker