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„Scheiße wie geil ist das denn?“, sagte ich lauter, als ich eigentlich wollte. Es war schließlich drei Uhr nachts. Jack sah von dem Joint auf, den er gerade irgendwie zu drehen versuchte.. „Was meinst du?“ Ich hatte gerade auf eine Bannerwerbung bei einem Video über die Endstationtheorie geklickt und war auf einer Website gelandet, in der es von farbfrohen Bildern nur so wimmelte. Überall waren Ruinen, Wandmalereien oder Dschungel abgebildet. Fremdartige Pflanzen, Tiere, Architektur. „Fuck, da müssen wir hin“, meinte Jack. „Ach, red keinen Scheiß.“
„Doch Mann! Scheiße wir müssen da hin.“ Ich zögerte. Der Gedanke war eigentlich ziemlich gut. Wir hatten Geld, wir hatten Zeit. Das Abitur lag keine Woche zurück und wir hatten bestanden (Jack ziemlich gut, ich überhaupt). „Konfuzius sagt: Zwischen zwei Spliffs entstehen die besten Ideen.“ Ich grinste. Wir scrollten weiter durch die Seite. Der Ort war knapp vier Stunden von Calama in Chile entfernt. Anscheinend nicht das beliebteste Ziel, aber auch etwas besonderes. Jack baute den Joint fertig und rauchte ihn an. „Willst du's echt machen?“, fragte ich. „Ja, mann – wenn wir's jetzt nicht machen, erleben wir nie was.“ Letzte Chance. Irgendwo stimmte das auch. Jack zog in zwei Monaten nach Wien und würde anfangen Game Studies zu studieren, während ich eine Ausbildung zum Finanzassistent machen würde. Klar sagten wir uns: Hey, wir treffen uns weiter und so weiter, aber ob das wirklich passieren würde? Keine Ahnung. Jack reichte mir den verkrüppelten Joint herüber. Ich zog. Inhalierte. „Wir machen das.“
Zwei Wochen später standen wir tatsächlich am Flughafen. Zwei Wochen, die daraus bestanden hatten, die Flüge und das Hotel zu buchen und unsere Eltern zu überzeugen. Danach hatten wir noch etwas rechtlichen Kram erledigt, aber letzten Endes hatten wir es irgendwie geschafft. „Ihre Papiere bitte“, sagte eine uniformierte Frau und ich drückte ihr alle Unterlagen in die Hand. Meine Hände zitterten. Flugangst. Natürlich hatte ich schon dafür darüber nachgedacht, aber ich hatte einfach nicht gedacht, dass es wirklich so schlimm werden würde.
Kurz darauf saßen wir auch schon in den Sitzen. Ich hatte Jack großzügigerweise den Fensterplatz angeboten. Mein Gurt war fest. Das überprüfte ich zum dritten Mal. Jack sollte nicht mitkriegen, dass ich Angst hatte; es war einfach peinlich. Jeder Depp kannte die Statistiken. Absolut sicher, blablabla. „Hoffentlich gibt’s nicht diesen üblichen Flugzeugfraß.“ Ich lachte, etwas lauter als ich sollte. Darum konnte man sich natürlich auch Sorgen machen. Die Einweisung bezüglich der Sicherheit kam und kurz darauf rollte das Flugzeug auch schon los. Mit jeder Sekunde in der das Flugzeug weiter beschleunigte, beschleunigte sich ebenfalls mein Herzschlag. Ich strich mir über die Stirn – der Schweiß war eiskalt und dann krallte ich mich in den Sitz als wir wirklich abhoben.
Mein Herzschlag beruhigte sich, als sich das Flugzeug relativ waagerecht in der Luft befand und langsam ein leichtes Gefühl der Sicherheit einkehrte, dass ich nicht gestorben war. „Hast du Angst?“, fragte Jack. „Du siehst echt scheiße aus.“ Ich sagte nichts, sondern schluckte nur und schüttelte den Kopf. Den Rest der Reise war ebenfalls eine Tortur. Stopps an zwei anderen Flughäfen und dann wieder hoch. Als wir endlich in Calama ankamen, hatte ich insgesamt vielleicht eine Stunde geschlafen und häufiger Todesangst gehabt, als in meinem ganzen Leben zusammen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich den Rückflug überstehen würde.
Die erste Zigarette, die ich in Calama rauchte, holte mich etwas auf den Boden zurück. Alles war gut, alles war sicher. Wir holten unser Gepäck und gingen dann nach draußen. Unser Bus, der uns in das Städtchen bringen sollte, würde erst in zwei Stunden kommen und so setzten wir uns in die nächste Imbissbude. Es gab lauter Sachen, die wir nicht aussprechen konnten und eben Pizza. Das war wohl überall so. Jack bestellte, denn er konnte zumindest einige Wörter und Phrasen. Das Einzige, was ich stammeln konnte, war „Si“ und „no“. Während wir aßen, nutzten wir das freie Wlan und sahen uns auf meinem Smartphone nochmal die Seite an. Irgendwie wirkte das Ganze nicht mehr so extrem geil. Ich wusste nicht, woran es lag, aber ich war etwas ernüchtert. Überschriften, Bilder, kurze Texte. Keine Ahnung.
„Die Götter der Worrenika warten nur darauf von Ihnen entdeckt zu werden. Grausame Legenden ranken sich um ihre Entstehungsgeschichten. Traust du dich?“, las Jack vom Bildschirm ab und grinste.
Wir aßen auf und gingen dann irgendwann zum Reisebus.
Nachdem wir dem Busfahrer die Tickets gezeigt und alles eingeladen hatten, setzten wir uns in den Bus. Er war bis auf drei ältere Frauen vollkommen leer und aus jedem Winkel schien ein ekliger Schweißgeruch zu kriechen. Sie tuschelten in Spanisch und starrten uns an, während wir hineingingen. Ich fühlte mich unbehaglich. Wir setzten uns ganz nach hinten; ein Fenster war an der Seite leicht geöffnet. Kurz darauf fuhren wir auch schon los. Ich schlief kurz darauf ein; die Reise war anstrengender als gedacht.
Jack weckte mich unsanft und zeigte nach draußen. Es dauerte einige Sekunden, bis ich wieder wirklich bei Bewusstsein war. Vor mir erstreckte sich ein unglaublicher Anblick. Es war feuchtwarm und unbekannte Pflanzen und Bäume standen meterhoch an der Seite der Straße. „Schau ma hier Samuel“, sagte Jack und drückte seinen Finger an die Scheibe. Ich folgte dem Finger und sah einen Affen, der grinsend von einem der Bäume hing. „Krass“, meinte ich. Jetzt wo alles real war, wirkte es noch viel extremer, als das erste Mal auf den Bildern. Die ganze Natur war so fremdartig und es war so viel, dass es sich total absurd anfühlte.
Keine halbe Stunde später erreichten wir die Kleinstadt. Wir und die Frauen stiegen aus und eine Gruppe von Arbeitern stieg ein. In einer Woche würden wir zurückfahren. Eine Woche – so lange hatte ich noch nie ohne meine Eltern verbracht gehabt.
„Scheiße – wie kommen wir zum Hotel?“, fragte Jack. „Hast du ne Ahnung?“ „Ich dacht, du kümmerst dich drum.“ Jack seufzte. Wir liefen planlos durch die Gegend. Jack sprach schließlich die nächstbeste Person an und versuchte in seinem gebrochenen Spanisch den Weg zu finden. Die ältere Frau spuckte nur auf den Boden, murmelte etwas und ging einfach weiter. „Fotze.“ Irgendwann fanden wir zum