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die ehemaligen Schulfreunde, aber auch seine jüdische Heimatgemeinde, zu der er sich nach wie vor stark hingezogen fühlte.
„Wer kann das denn sein?“
Es läutete mehrmals. Offensichtlich befand sich jemand unten vor dem Haupteingang dieses beeindruckenden Gebäudekomplexes, denn durch den Spion in seiner Wohnungstür war nichts zu erkennen. Vielleicht der Paketdienst … Ärgerlich, dass die Sprechanlage defekt war. Eigentlich hätte Meir den entsprechenden Weg auf sich nehmen müssen, denn laut Hausordnung sollte man vor allem zu dieser Tageszeit erst öffnen, wenn man genau wusste, wer um Einlass bat.
„Wo kein Kläger …“
Es vergingen einige Minuten, dann klopfte es dreimal an der Tür des Apartments. Ohne zu zögern wurde geöffnet, doch auf dem Flur war niemand zu sehen.
„Ist das hier etwa eine neue Form von Klingelstreich?“
Meir ging wieder zurück an den Schreibtisch, wo eine unvollendete Onlineschachpartie auf ihn wartete. Nachdem er die Dame seiner virtuellen Gegnerin unausweichlich bedroht hatte, schwebte plötzlich ein Kugelschreiber an ihm vorbei.
„Bitte nicht erschrecken!“
Unglaublich, denn auf seinem Schreibblock war wie von Geisterhand dieser Satz hinterlassen worden. Natürlich tat der Zwanzigjährige genau das Gegenteil, sprang sofort auf und dursuchte den gesamten Raum nach zielführenden Hinweisen. Davon augenscheinlich völlig unbeeindruckt, bildeten einer seiner Pullover, die am Morgen in der Uni getragene Jeans und das große üblicherweise beim Motorradfahren umgebundene Halstuch eine Art surrealistische Figur. Dieses Etwas betrat das Bad, kehrte dann aber recht schnell wieder von dort zurück, um dem zuvor geöffneten Küchenschrank eine Flasche Olivenöl zu entnehmen. Der Schraubverschluss drehte sich, hob ab und landete schließlich sanft auf dem Zweiplattenherd. Grünliche Flüssigkeit ergoss sich über eine langsam sichtbar werdende Handfläche. Schließlich kam auch die Zweite zum Vorschein, gefolgt von einem glänzenden Gesicht, allerdings mit fehlenden Augen. Beide Ohren befanden sich wohl unter dem vom Hals- zum Kopftuch umfunktionierten Stoff. Meir sackte aufs Bett, das tagsüber als Sofa fungierte und sein geheimnisvolles Gegenüber schrieb derweil erneut etwas …
„Erkennst du mich jetzt?!“
Er hatte bereits eine starke Vermutung ...
„Rana?!“
Sein Pullover war ihr deutlich zu groß, die im oberen Bereich sichtbar ausgebeulte und an den Beinen hochgekrempelte Hose offensichtlich zu lang … Was ging hier eigentlich gerade vor sich?
„Aber …“
Sie hatten sich vor gut einem Jahr zum Studienbeginn kennengelernt. Bereits nach wenigen Monaten wurde seine Kommilitonin jedoch immer auffälliger in ihrem Verhalten, was letztendlich in einem folgenreichen Ereignis münden sollte. Seit dieser Zeit war Rana ununterbrochen in der örtlichen psychiatrischen Uniklinik untergebracht. Meir besuchte sie dort regelmäßig, denn die beiden verband eine enge platonische Freundschaft, durch jene tragische Umstände sogar deutlich vertieft.
„Ich bin echt sprachlos …“
In kurzen Sätzen schrieb sie alles Erlebte der vergangenen Stunden auf, verschwieg allerdings die eigenmächtig entschiedene Tablettenabsetzung.
„Wenn ich das nicht gerade mit meinen eigenen Augen sehen würde … Es ist absurd, surreal, phantastisch und vor allem sämtlichen Naturgesetzen widersprechend …“
Eine weitere schriftliche Botschaft kam zum Vorschein.
„Nimm mich doch bitte mal in den Arm!“
Auf anfängliches Zögern folgte eine lange herzliche Umarmung. Der von Meir getragene Pullover wurde dabei beidseitig mit dem auf ihrem Gesicht und den beiden Händen verriebenen Olivenöl beschmiert. Absolut abgefahren, denn die etwa ein Kopf kleinere Rana war zwar unsichtbar und unhörbar, aber ihr Körper konnte ertastet bzw. erspürt werden … Ein fettiger Zeigefinger berührte derweil vorsichtig die zwischen seinen beiden blauen Augen verortete Nase.
„Was machen wir denn jetzt?“
Er strich sich mit den Händen über die kurzen dunkelblonden Haare, nachdem beide Körper wieder auf Distanz zueinander gegangen waren. Ein Zurück in die Klinik kam definitiv nicht infrage, denn man würde dort mit Sicherheit diverse Behörden einschalten, um entsprechende Untersuchungen bzw. Experimente durchzuführen. Darüber hinaus durfte der mysteriöse Kleiderschrank auf gar keinen Fall in die falschen Hände geraten.
„Wir müssen dieses Ding unbedingt zerstören!“
Rana schrieb jedoch, dass sie sich im Moment so gut wie bereits seit sehr langer Zeit nicht mehr fühle und erst einmal mit ihm den Abend genießen wolle. Mittlerweile hatte ihr Meir sein Smartphone zur Verfügung gestellt, denn das Tippen ging deutlich schneller.
„Du hast vielleicht Nerven …“
Wenig später passierten sie den Ausgang des Studierendenwohnheims. Das Olivenöl war zuvor abgewaschen worden bzw. bereits in die Haut eingezogen, wodurch es überraschenderweise ebenfalls unsichtbar wurde. Dank relativ milder Temperaturen genügte seiner Begleitung die ursprünglich am Körper getragene Kleidung, um sich für eine begrenzte Zeit nicht frierend im Freien aufhalten zu können … Schon seltsam, er war nicht allein und musste sich trotzdem blind darauf verlassen, dass sie sich in seiner unmittelbaren Nähe aufhielt. Händchenhalten wäre nicht nur unpassend gewesen, sondern hätte auch für Außenstehende ein viel zu auffälliges Bild abgegeben.
„Wenn du mir etwas mitteilen möchtest, dann tipp mich einfach an, damit ich dir mein Smartphone geben kann.“
Meir bog in die nächste Straße Richtung U-Bahn-Haltestelle ein, um von dort aus in die Innenstadt zu gelangen. Jemand lud etwas in den Kofferraum eines direkt an der Kreuzung haltenden Wagens, während die Fahrertür offen stand und der Schlüssel steckte.
„Halt!!!“
Fluchend versuchte der fremde Mann dem eigenen BMW hinterherzulaufen, doch das scheinbar autonom gesteuerte Fahrzeug mit der geöffneten Heckklappe war bereits nicht mehr zu sehen.
„Rana hat doch nicht wirklich …“
Was sollte Meir jetzt bloß machen? Instinktiv trat er den Rückweg an, wurde allerdings kurz vor der Haustür von dem herbeirasenden gestohlenen Wagen überrascht, der unmittelbar neben ihm hielt.
„Bist du jetzt völlig wahnsinnig geworden?!!!“
Trotz vollständig geschlossener Fensterscheiben dürfte Rana ihn deutlich gehört haben, zumal der Kofferraum nach wie vor offen stand. Niemand befand sich in unmittelbarer Nähe, was ihn dazu bewog, unbemerkt die Klappe am Heck zu schließen und dann auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen.
„Wir bringen jetzt sofort diese Karre zurück!“
Nur mit Mühe konnte er sich gerade noch anschnallen, bevor seine Begleitung das Gaspedal durchdrückte. Wenigstens war ihr unsichtbarer Körper ebenfalls mit einem Gurt versehen.
„Geht’s vielleicht auch etwas langsamer?!“
Rana nahm sich seine Worte nur halb zu Herzen, dachte aber nicht daran den BMW wieder abzugeben und parkte stattdessen nach einer spannenden Fahrt in unmittelbarer Nähe der sehr beliebten alternativen Diskothek „Let’s Dance“, woraufhin ihr Meir sofort das Smartphone hinhielt.
„Na los, lass uns feiern gehen!“
„Du hast Nerven!“
„Komm schon, sei kein Feigling …“
Handy und Fahrzeugschlüssel verschwanden in den Taschen seiner dünnen Jacke, unter der er ein vor dem Verlassen der Wohnung frisch gewechseltes Sweatshirt trug. Sie