Kushiba und Thorben

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von Lara Preis

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Ziellos ließ sie ihre Blicke schweifen. Der Magen knurrte, da die Jäger heute recht wenig Beute mit nach Hause gebracht hatten. Mit gezielten Handgriffen wurden die Matten in ihrer Schlafmulde gerichtet, aber auch dies beförderte Kushiba nicht in das Reich tiefer Träume. Um sie herum atmete, seufzte und schnarchte es. Eine ganze Großfamilie vom Baby bis zur ergrauten Großmutter, untergebracht in einer Hütte, die aus einem einzigen großen Raum bestand. Als Baumaterialien dienten einst in erster Linie Baumstämme und Äste. Das Reetdach versperrte ihr zwar den Blick zum nächtlichen Himmel, dafür spendete es Trockenheit.
Kushiba galt als eine aufgeweckte und wissbegierige Jugendliche. Auch ihr Äußeres fiel ein wenig aus dem Rahmen, denn das lange zerzauste Haar war nicht einfach nur dunkelbraun wie bei den anderen Frauen, sondern wurde von natürlichen rötlichen Strähnen durchzogen, was selbst dem Stammesoberhaupt ein Rätsel aufgab.
Immer qualvoller wurde die Schlaflosigkeit, weshalb sie aufstand und sichtlich von Müdigkeit gezeichnet ins Freie ging. Mehrere Feuerstellen glühten vor sich hin und boten dem Betrachter einen wunderschönen Kontrast zum üppig mit Sternen behangenen Firmament. Kushiba ließ schon bald die Siedlung hinter sich. Ihre unbekleideten Füße steuerten zielstrebig auf die angrenzende Wildnis zu, vorbei an den Gerippen erst kürzlich verzehrter Tiere. Plötzlich fiel ein besonders heller Stern ins Auge, der unbeschreiblich schnell auf die Erde herabstürzte, ohne dabei auch nur den leisesten Ton von sich zu geben. Ängstlich blieb sie stehen und sah, wie das Gestirn in einen alten Baum unmittelbar vor ihr einschlug. Der Stamm wäre beinahe gespalten worden, jedoch ohne dass eine Druckwelle auftrat oder irgendjemand etwas mitbekam. Stattdessen ging jetzt von diesem Ort ein sonderbares goldenes Leuchten aus, von dem Kushiba verführerisch angezogen wurde.
„Komm doch mal näher!“
Vorsichtig näherte sie sich der geheimnisvollen Stimme.
„Du siehst ja lustig aus … Abgefahrene Kette. Sind die Tierzähne daran eigentlich echt?“
Ganz sicher, es konnte sich nur um eine Gottheit handeln, die zur Erde hinabgestiegen war, um über sie und ihr Volk Gericht zu halten. Einem Impuls folgend, kniete Kushiba vor dem mutmaßlichen Heiligtum nieder und hielt krampfhaft nach einem Tier Ausschau, was als Opfergabe dargereicht werden konnte. Dadurch sollte ihr Gegenüber gnädig gestimmt werden.

Angriffslustig stürmten die Jugendlichen durch den Schulflur und hielten Ausschau nach dem Gejagten. Ein besonders übergewichtiger Elftklässler deutete auf den direkten Weg in Richtung Aula.
„Der kann nur in diese Richtung geflohen sein!“
Thorben hatte sich zeitgleich hinter einer geöffneten Klassenzimmertür versteckt und hörte seine Verfolger jetzt immer näher kommen. Kurz nachdem die Meute vorbeigezogen war, machte sich ein unerwünschtes Kribbeln in der Nase bemerkbar und löste bei ihm lautes Niesen aus.
„Halt! Schnell zurück, wir haben ihn!“
Zu flüchten war zwecklos, denn sie hätten ihn wohl früher oder später eh überwältigt. Ohne sich zu wehren, ließ Thorben die unzähligen Tritte und Schläge über sich ergehen. Am Ende schmerzten mehrere Stellen seines Körpers gleichzeitig, Blut tropfte aus der Nase …
Vor dem Schulwechsel im vergangen Sommer galt er sicherlich nicht wirklich als coolster Typ seiner Klasse, aber die größte Außenseiterrolle verkörperte damals ein anderer Mitschüler. Erst seitdem die Oberstufe dieses Gymnasiums von ihm besucht wurde, hatte man es auf den „unerwünschten Neuling“ abgesehen. Eigentlich fand das Mobbing hauptsächlich über die sozialen Netzwerke statt. Bis heute, denn dummerweise wagte es Thorben auf dem Schulhof mit einem Mädchen aus der zehnten Klasse zu sprechen, der Schwarm eines seiner Peiniger. Die entsprechende Reaktion ließ dann bekanntlich nicht lange auf sich warten.
Endlich läutete es zum Ende der letzten Stunde. Hoffnungsvoll nicht erneut in Schwierigkeiten zu geraten, wurde der Rucksack schnell über die schmale Schulter gehievt und eiligst aus dem Chemieraum gestürmt. Der Heimweg führte durch einen kleinen Park, wo frisches Herbstlaub den Boden einfärbte.
Es war nahezu windstill als Thorben ein bizarres Brausen wahrnahm. Wie aus dem Nichts schwebte etwas von oben herab in Richtung Erde und landete direkt vor seinen Füßen.
„Wo kommt denn dieses Ding auf einmal her?“
Er schien jetzt völlig allein zu sein, konnte deshalb unbeobachtet das Gerät verstauen und dann schnell den Heimweg fortsetzen. Hin- und hergerissen wie man denn mit diesem Fund am besten verfahren sollte, entschied sich Thorben erst einmal für Sicherungsverwahrung.
Zuhause in seinem Zimmer angekommen, entpuppte sich das scheinbar moderne Smartphone als große Enttäuschung. Es gab nämlich keine Möglichkeit im Internet zu surfen, SMS zu versenden oder zu telefonieren. Darüber hinaus schien sich der Akku wohl niemals zu entleeren, denn es bestand offensichtlich nicht die Möglichkeit eine Stromquelle oder sonstiges an dem Gerät anzuschließen. Keinerlei Symbole zierten das Display. Stattdessen schien der Bildschirmhintergrund die Aufzeichnungen einer Art Überwachungskamera wiederzugeben. Zu sehen war jedoch nur öde nächtliche Wildnis. Eine künstliche Lichtquelle musste von hinten oder oben die Szenerie zusätzlich beleuchten, denn der untere Bildausschnitt erstrahlte in goldfarbenem Licht. Bei näherem Hinschauen sah Thorben eine junge Frau in der Ferne. Unbedarft rief er ihr zu und bat sie näher zu kommen. Er wurde offensichtlich gehört, denn die fremde Person trat jetzt viel größer in Erscheinung als zuvor. Zerzauste Haare, die Kleidung mutmaßlich aus Fellen und Wolle gefertigt, dazu um den Hals eine Kette aus großen Tierzähnen tragend. War dies etwa der Drehort für einen Steinzeitfilm oder handelte es sich vielleicht um ein Liverollenspiel, in dem die Akteure über Kameras beobachtet werden konnten? Neugierig fragte er sein Gegenüber, ob die Halskette denn echt sei und amüsierte sich über das gesamte Erscheinungsbild der Frau, die ungefähr in seinem Alter sein musste. Als sie dann auch noch auf die Knie fiel und sich suchend nach etwas umzuschauen begann, war sich Thorben relativ sicher ...
„Also doch ein Liverollenspiel mit interessanten Möglichkeiten für den Zuschauer!“

Völlig übermüdet wachte Kushiba im Zuge der Morgenröte auf. Sie musste als ältestes Kind ihrer Eltern wie jeden Tag das Frühstück zubereiten, einen mit Wasser angerichteten Getreidebrei. Erst nach einiger Zeit überwog das Gefühl in ihr, die Ereignisse der vergangenen Nacht nicht einfach nur geträumt zu haben. So schnell wie möglich musste jetzt das Stammesoberhaupt informiert werden, denn sie konnte schließlich nicht als einfache junge Frau mit einer Gottheit sprechen. Andererseits, Kushiba kannte niemanden, der ähnliches erlebt hatte und es musste schließlich erst einmal Gewissheit herrschen, um nicht schutzlos dem Spott der anderen Stammesmitglieder ausgesetzt zu werden.
Immer wieder

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