Tote erzählen aus einem Friedhof im südlichen Lappland - Page 3

Bild von Willi Grigor
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Sonntag im Hochamt dachte ich,
dass es am besten wäre, zu sterben,
so verdammt schwer ich es hatte
mit meinem Mann zu Hause.

Aber man nächsten Tag
radelte ich wieder wie üblich
auf der Landstraße.

Warum lächelst du, sagten die Leute manchmal.

Ja, sagte ich,
beschäftigt wie ich war mit den
Eingeborenenstämmen,
frag es den, der es weiß.

Gustav Jäger

Ich war ein Waldmensch
und hatte Angst vor der Natur.

Ich kannte jeden Waldweg,
jeden zugewachsenen Kuhpfad, jeden Weiher
in denen die Ziegenbuben angelten.

Ich kannte den Wald.

Ich wusste, wo die Elche gingen,
bekam selbst ihren weichen Gang,
wenn sie durch das Sumpfland streiften.

Ich war ein Freund der Unglückshäher,
den Füchsen und den Rehen.

Ich wusste, wo die Moltebeeren wuchsen,
die keine anderen Pflücker kannten.

Ich hatte ein Waldlachen und eine Waldseele.

Doch an manchen Tagen, mit dem Kaffee am Feuer,
stieg ein sonderliches Licht aus den Steinen,
und die Landschaft wurde metallisch,
und ich hörte einen Schrei
und sah unsere Welt
wie sie ist:
unheimlich, widrig, leer.

Ich sah ein Bild davon,
im Krankenhaus in Vilhelmina.
Eine Frau steht auf einer Brücke
und hält sich in größter Angst
die Hände vor die Ohren.

Sie hörte, was ich hörte.

Mein Name ist Gustav Jäger.
Ich war ein Waldmensch
und hatte Angst vor der Natur.

"Der Schrei" ist ein Gemälde des Malers Edvard Munch (Norwegen), der damit seine eigene Angstattacke verarbeitete, die er während eines abendlichen Spaziergangs hatte, bei der er einen Schrei zu vernehmen meinte, der durch die Natur ging.

Henny Risberg

Ich war zufrieden mit dem Wenigen.

Ich ging hinaus
und warf die Kartoffelschalen in den Schnee,
damit die Krähen etwas zu essen hatten.
Ich holte die Zeitung
aus dem weißfrostigen Briefkasten
und hob die kalten Neuigkeiten der Welt
und roch an dem Papier.

Das war das Abenteuer des Tages.

Am Nachmittag
kam immer Jonny Lidberg
und fragte, ob er Schnee schippen sollte.
Ich lud ihn zum Kaffee ein
und holte Kuchen aus dem Kühlschrank.

Am Abend wollte ich nie fernsehen.

Ich saß nur auf meinem Stuhl
und strickte
vor der offenen Tür des Holzofens
und dachte:
Der Mensch
kann es nicht besser haben als so!

Ich war zufrieden mit dem Wenigen.

Jonas Gavelin

Ich hinterließ keine Zeichen,
ich ritzte nie meinen Namen in die Rinde,
ich baute keine Elchjagdtürme.

Ich saß auf einem Baumstumpf
mit meinem Gewehr
und unterhielt das Feuer, während
das Wild vorbeizog.

Sah ich einen gefallenen Baum im Wald,
stieg ich nicht über ihn,
ich ging um ihn.

Ich vollbrachte nichts
und schädigte niemand.

Wenn ich nach Hause ging,
verwischte ich meine
Fußspuren.

Bo Johansson

Wer erinnert sich noch,
dass auf dem Glasgestell unter dem Spiegel
eine Flasche Rasierwasser stand,
aber auch eine Flasche mit Benzin?

Das Benzin spritzte man auf den Jackenkragen,
und das Rasierwasser blieb stehen.
Roch man nach Benzin,
hatte man vielleicht ein Auto.

Wer erinnert sich an die Skiwettbewerbe
in den Hungerjahren Anfang 1900,
da alle versuchten, letzter zu sein,
um das Jumbobrot zu bekommen.

Das große, herrliche,
sättigende Riesenbrot!

Wer denkt noch daran, dass wir eine Kette sind,
und die Hände die Glieder,
die alles zusammenhalten?

Wer erinnert sich an all die Menschen, die in den
leeren Norden gingen, um Flächen zu bebauen,
damit Youtuber der heutigen Zeit
geboren werden konnten und etwas wurden?

Milchtrog, Butterfass, Bärenfalle -
alle sind sie Buchstaben

in der gewaltigen Erzählung unseres Lebens,
und vergessen wir diese,
vergessen wir unsere Geschichte
und unser Dasein wird ein leeres Haus
mit zerschlagenden Fenstern.

Warum ist niemand mehr
an dem Heimatort interessiert?
Sie wohnen doch schließlich hier.

Agneta Filipson

Den nächste Teufel, der bis zum Holzschuppen
kommt, erschieße ich! sagte mein Vater,
hob das Gewehr und sichtete.

Meine Kindheit war voll von Schusswaffen,
Dynamit und Du schwarzer Zigeuner
auf dem Radiogrammafon.

Dass meine Kindheit etwas war,
das man in den Büchern liest,
verstand ich erst viel später,
aber für uns war es natürlich,
dass die Erwachsenen mitten in der Nacht
hereintaumelten. Sie wollten essen
und die Nachbarn erschießen.

Aber als ich hinaus in die Welt kam
und von unserem Ort erzählte, legten
die Leute ihre Stirn in tiefe Falten
und sagten:

Welche fürchterliche Kindheit du hattest.

Aber sie hatten keine Ahnung welche
unendliche Mühe die Männer im Ort
sich machten, um genau die richtigen
Mittsommerbirken zu finden,
und wie sorgfältig sie sie gossen,

die kleinen Bäume im Vorbau der Haustür
in ihren großen, leeren Kaffeedosen,
auf denen Cirkelkaffee stand.

Sven Hansson

Ich war Lokalredakteur in dieser Gegend
und wohnte allein
am Rand des großen Ortes,
in dem das Leben pulsierte.

Mein wichtigstes Werkzeug
war die Boxkamera, eine Rolleiflex
Spiegelreflex, Zeiss Tessar 75 mm 1:3,5,
sie war schwarz.

Einmal befestigte ich sie an einem Baumast
nahe dem Nest einer Vogelfamilie,
und mit dem Fernauslöser
machte ich ein Foto, als die
Vogelmamma ihre Jungen fütterte.

Ich sah die Blicke der Mutter
und die Blicke der Jungen,
und in mir regte sich das
erhabene Gefühl, dass auch
Vögel Liebe empfinden.

Mein Bild weckte großes Unverständnis im Ort,
einige warfen Steine auf mein Haus.
Man vertrug nicht, dass ein Mann
auf einen Baum kletterte, um ein Bild
von ein paar Kleinvögeln zu machen.

Darüber habe ich mir oft den Kopf zerbrochen.

Was hätte ich anders machen sollen?
Ich weiß es nicht.

Das einzige was ich weiß, ist, dass sich
jeden Frühling die Bachstelze auf meinen
Grabstein setzt und mit halboffenem
Schnabel auf mein Grab blickt.

Elisabet Moritz

Ich saß immer auf dem Küchenhocker
am Spülbecken, einen Meter vom Herd.

Ich machte Frühstück für ihn,
Ich machte Mittagessen für ihn,
Ich machte Abendessen für ihn.

Er saß allein
und aß am Tisch, nahm einen Bissen
und schaute raus auf den Weg.

Ich saß auf meinem Hocker
mit dem Teller auf dem Knie und aß.

Jeden Sommer fuhr ich mit dem Rad auf der
Landstraße, dann auf dem Kiesweg
zu Daniel-Petters und den Moltebeeren.

Ich ging ein Stück zum feuchten Moor
unter den hohen Stromleitungen,
die in dem Jahr gebaut wurden,
als ich an die Liebe glaubte.

Ich ging mit meinem Eimer
und pflückte die reifen Beeren,
und fühlte, wie meine Haarnadeln
bei jedem Schritt, den ich machte,
Kraft aus den
Hochleitungen aufnahm, wie der Schnellzug,
den ich einmal sah in Vännäs.
Es knisterte um sie!

Als der Eimer voll war,
radelte ich wieder heim
und stellte ihn in die Vorratskammer.

Dann setzte ich mich auf meinen Hocker
neben dem Herd,
erfüllt von Kraft,
um ein weiteres Jahr zu leben.

Vännäs - ein Ort in der schwedischen Provinz Västerbottens län und der historischen Provinz Västerbotten.

John Vikström

Ich schrieb Gedichte,
obwohl ich ein großer, starker Kerl war.

Ich schrieb auf Birkenrinde, die ich löste
und wieder anbrachte,
kurze Worte mit kleinen Buchstaben
über meine Einsamkeit.

Ich ging weit hinein in das Gopagele-Waldgebiet
und schrieb auf
weißen Fensterstreifen,
und legte sie unter das Moos.

Und im Frühling, nach den starken Regenfällen,
wenn Vattenfall
in den Bergen seine Dämme öffneten,
saß ich an den Flüssen
und den Bächen
und sah meine Worte in den schnellen
Stromwirbeln vorbeifließen.

Aber die "Lyrikvännen"
wagte ich nicht zu abonnieren,
das wäre ja herausgekommen.
Und in der Bibliothek
stand ich und las heimlich Karin Boye,
aber ich lieh mir nie ein Buch von ihr,
das wäre ja herausgekommen.

In diesem Wald befindet sich eine Anthologie
von mir, an Findlingen, Elchjagdtürmen
und Lagerfeuern, die ich machte
im poetischen Einvernehmen mit jenen,
die ich nie gewagt hätte zu treffen.

Gopagele

© Willi Grigor, 2020
Übersetzung des Buches von 2020 "På kyrkogården i södra Lappland" des schwedischen Dichters Börje Lindström. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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Interne Verweise

Kommentare

13. Dez 2020

Leben, das in Worten steckt,
Wurde sofort stark geweckt!

LG Axel

13. Dez 2020

Tote, die für uns berichten
wie sie lebten, liebten, strebten,
können einen Hinweis geben
auf unsre eigenen Geschichten.

LG
Willi

14. Dez 2020

Wunderbare Geschichten stecken in den Gedichten, lieber Willi,
klingen so heimisch, die da schreiben, sind ganz bei sich.
Mit Freude gelesen, vielen Dank!

Herzliche Grüße,
Monika

14. Dez 2020

Das fand ich auch.
Deshalb habe ich das ganze Buch übersetzt, über 100 Gedichte.

Danke Dir, Monika
Willi

14. Dez 2020

Hoch interessant, was ich da lese - diese Gedichte so "kongenial" zu übersetzen - ist eine große Kunst, Hut ab davor, lieber Willi.

Liebe Grüße - Marie

14. Dez 2020

Schön, dass Du das so siehst, Marie.
Aber die Übersetzung ist nicht so schwer, wenn man einen Text hat, der einem unter die Haut geht. Und in diesem Buch gingen mir so gut wie alle 110 unter die Haut. Ich habe die letzten 4 Wochen nichts anderes gemacht als übersetzen.
Dazu kommt, dass Börje Lindström (68) ein spezieller Typ ist, meine ich. Ich kenne ihn nicht persönlich.
Sein Leben war wohl nicht ganz so einfach, wie man aus seinen Texten herauslesen kann.
Aufgewachsen in einem kleinen Nest in Lappland. Wich von der dortigen Norm ab." Flüchtete" nach Stockholm. Tauchte als Dichter für 30 Jahre ab. Dann hatte er im Mai 2017 "eine Serie starker Träume" und schrieb bis Ende August 27 Gedichte, aus denen das Büchlein "Björkarna" wurde.
2020 dann das Buch, das ich übersetzte.
Ich bin tatsächlich etwas traurig, dass es vorbei ist. Ich hatte Freude mit den Toten, obwohl die meisten der Personen ein nicht so einfaches Leben hatten.

Ich wünsche Dir eine gute Nacht, Marie
Willi

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