Denn in der ersten Zeit des Aufstands muß getötet werden

Bild zeigt Jean-Paul Sartre
von Jean-Paul Sartre

»Denn in der ersten Zeit des Aufstands muß getötet werden: Einen Europäer erschlagen heißt zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen. Was übrigbleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch.«

Bedeutung, Textauslegung und Hintergrund:

Dieses Zitat stammt aus Sartres Vorwort zu Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde (Les Damnés de la Terre, 1961), einem Schlüsselwerk des antikolonialen Denkens. Sartre stellt sich in diesem Vorwort radikal auf die Seite der Unterdrückten und verteidigt die Gewalt als eine unvermeidbare Konsequenz in der frühen Phase eines antikolonialen Aufstands. Diese Aussage hat viel Kontroverse ausgelöst, da sie explizit die Anwendung von Gewalt rechtfertigt.

1. Gewalt im Kontext des Kolonialismus

Sartre bezieht sich auf die Gewalt, die die Kolonisierten gegen die Kolonialherren ausüben, um sich aus der Unterdrückung zu befreien. Diese Gewalt sieht er nicht nur als legitim, sondern als notwendig. In der kolonialen Logik ist der Kolonisator sowohl Täter (Unterdrücker) als auch Opfer (entmenschlicht durch seine eigene Gewalt). Indem der Kolonisierte den Kolonisator tötet, befreit er sich selbst von der Unterdrückung und befreit gleichzeitig den Kolonisator von seiner Rolle als Unterdrücker.

2. Menschwerdung durch Gewalt

Das Konzept der Menschwerdung durch Gewalt ist stark von Fanon inspiriert, der Gewalt als einen reinigenden Akt für die Kolonisierten betrachtet. Für Sartre ist der Kampf gegen den Kolonialismus ein existenzieller Akt: Durch den Aufstand wird der Kolonisierte zum Subjekt und nimmt sein Schicksal in die eigene Hand. Die Gewalt hat damit eine symbolische und transformative Funktion – sie erschafft Freiheit.

3. Ein toter Mensch und ein freier Mensch

Sartres Formulierung betont die Dialektik der Gewalt: Sie zerstört einen Unterdrücker (den Kolonisator) und schafft gleichzeitig einen freien Menschen (den Kolonisierten). Diese extreme Zuspitzung zeigt Sartres Überzeugung, dass die koloniale Ordnung so tiefgreifend und unmenschlich ist, dass sie nur durch Gewalt überwunden werden kann.

4. Kritik und Kontroversen

Dieses Zitat hat viel Kritik erfahren, da es Gewalt als moralisch gerechtfertigt darstellt. Kritiker wie Alfred Grosser in der Zeit (13. Dezember 1974) oder Hannah Arendt warfen Sartre vor, den destruktiven Aspekt der Gewalt zu verharmlosen und die langfristigen Folgen zu ignorieren. Auch wird Sartre oft vorgehalten, dass er aus der Perspektive eines Intellektuellen spricht, der selbst nicht direkt von der Gewalt betroffen war.

5. Philosophischer Kontext

Sartres Rechtfertigung der Gewalt steht im Kontext seines Existenzialismus, der radikale Freiheit und Verantwortung betont. In einer kolonialen Situation, in der die Kolonisierten ihrer Menschlichkeit beraubt werden, sieht Sartre den Akt der Gewalt als eine Möglichkeit, diese Menschlichkeit wiederzuerlangen. Dies ist jedoch nicht als universelle Verteidigung der Gewalt zu verstehen, sondern als spezifische Antwort auf den Kolonialismus.


Fazit

Das Zitat drückt Sartres radikale Solidarität mit den Kolonisierten aus und rechtfertigt Gewalt als notwendiges Mittel zur Befreiung aus kolonialer Unterdrückung. Es zeigt die philosophische und politische Zuspitzung seines Denkens, wurde jedoch aufgrund der offensichtlichen Rechtfertigung von Gewalt auch stark kritisiert. Sartres Position bleibt ein kontroverses Kapitel in seiner Auseinandersetzung mit Macht, Freiheit und Unterdrückung.

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