Seiten
in Ferney aufzuhalten, um aus Voltaires eigenem Mund zu erfahren, wie er die Streitschrift seines gefährlichsten Widersachers, des Chevaliers von Seingalt, aufgenommen.« Casanova, die Hand auf der Seitenlehne des Wagens, neben Marcolinens Arm, dessen sich bauschende Hülle seine Finger streifte, erwiderte kühl: »Es wird sich weniger darum handeln, wie Herr Voltaire, als vielmehr wie die Nachwelt meine Schrift aufnimmt; denn diese erst wird ein Recht darauf haben, die endgültige Entscheidung zu treffen.« – »Sie glauben«, meinte Marcolina ernsthaft, »daß in den Fragen, die hier zur Sprache stehen, überhaupt endgültige Entscheidungen gefällt werden können?« – »Diese Frage wundert mich aus Ihrem Munde, Marcolina, deren philosophische, und wenn das Wort hier angebracht erscheint, religiöse Ansichten mir zwar keineswegs an sich unbestreitbar, aber doch in Ihrer Seele – falls Sie eine solche als vorhanden annehmen – vollkommen fest gegründet schienen.« – Marcolina, der Spitzen in Casanovas Rede nicht achtend, sah ruhig zum Himmel auf, der sich in dunkler Bläue über die Wipfel der Bäume breitete, und erwiderte: »Manchmal, besonders an Tagen wie heute«, – und in diesem Wort klang nur für Casanova, den Wissenden, aus den Tiefen ihres erwachten Frauenherzens eine bebende Andacht mit – »ist mir, als wäre all das, was man Philosophie und Religion nennt, nur ein Spiel mit Worten, edler freilich, doch auch sinnloser als alle andern sind. Die Unendlichkeit und die Ewigkeit zu erfassen wird uns immer versagt sein; unser Weg geht von der Geburt zum Tode; was bleibt uns übrig als nach dem Gesetz zu leben, das jedem von uns in die Brust gesenkt ist – oder auch wider das Gesetz? Denn Auflehnung wie Demut kommen gleichermaßen von Gott.«
Olivo sah auf seine Nichte mit scheuer Bewunderung, dann ängstlich zu Casanova hin, der nach einer Entgegnung suchte, mit der er Marcolinen klarmachen könnte, daß sie Gott sozusagen in einem Atemzug bewies und leugnete, – oder daß Gott und Teufel für sie eines seien; – aber er spürte, daß er gegen ihr Gefühl nichts andres einzusetzen hatte als leere Worte, – und nicht einmal die boten sich ihm heute dar. Doch der sonderbar sich verzerrende Ausdruck seiner Mienen schien in Amalia die Erinnerung an seine wirren Drohungen von gestern wieder aufzuwecken, und sie beeilte sich zu bemerken: »Und doch ist Marcolina fromm, glauben Sie mir, Chevalier.« – Marcolina lächelte verloren. »Wir sind es alle in unsrer Weise«, sagte Casanova höflich und sah vor sich hin.
Eine plötzliche Biegung des Wegs, und das Kloster lag vor ihnen. Über die hohe Umfassungsmauer ragten die schlanken Enden der Zypressen. Auf das Geräusch des heranrollenden Wagens hatte sich das Tor aufgetan, ein Pförtner mit langem weißen Barte grüßte andächtig und ließ die Gäste ein. Durch einen offenen Bogengang, zwischen dessen Säulen man beiderseits in einen ganz verwachsenen, dunkelgrünen Garten sah, näherten sie sich dem eigentlichen Klostergebäude, von dessen grauen, völlig schmucklosen, gefängnisartigen Mauern eine unfreundlich-kühle Luft über sie geweht kam. Olivo zog an dem Glockenstrang, es tönte schrill und verhallte sofort, eine tiefverschleierte Nonne öffnete schweigend und geleitete die Gäste in den geräumigen kahlen Sprechsaal, in dem nur ein paar einfache hölzerne Stühle standen. Nach rückwärts war er durch ein dickstäbiges Eisengitter abgeschlossen, jenseits dessen der Raum in ein unbestimmtes Dunkel verschwamm. Bitternis im Herzen, dachte Casanova jenes Abenteuers, das ihm auch heute noch eines seiner wunderbarsten dünkte und das in ganz ähnlicher Umgebung seinen Anfang genommen: in seiner Seele stiegen die Gestalten der zwei Nonnen von Murano auf, die in der Liebe für ihn als Freundinnen sich gefunden und ihm gemeinsam unvergleichliche Stunden der Lust geschenkt hatten. Und als Olivo im Flüsterton von der strengen Zucht zu sprechen anhub, in der hier die Schwestern gehalten seien, die, einmal eingekleidet, ihr Antlitz unverhüllt vor keinem Manne zeigen dürften und überdies zu ewigem Schweigen verurteilt wären, zuckte um seine Lippen ein Lächeln, das gleich wieder erstarrte.
Die Äbtissin stand in ihrer Mitte, wie aus dem Dämmer hervorgetaucht. Stumm begrüßte sie die Gäste: mit einem über alle Maßen gütigen Neigen des verhüllten Hauptes nahm sie Casanovas Dank für den auch ihm gewährten Einlaß entgegen; Marcolina aber, die ihr die Hand küssen wollte, schloß sie in die Arme. Dann lud sie alle durch eine Handbewegung ein, ihr zu folgen, und führte sie durch einen kleinen Nebenraum in einen Gang, der im Viereck rings um einen blühenden Garten lief. Im Gegensatz zu jenem äußeren verwilderten schien er mit besondrer Sorgfalt gepflegt, und die vielen reichen sonnbeglänzten Beete spielten in wundersamen aufgeglühten und verklingenden Farben. Den heißen, fast betäubenden Düften aber, die den Blütenkelchen entströmten, schien ein ganz besonders geheimnisvoller beigemischt, für den Casanova in seiner Erinnerung keinen Vergleich zu finden wußte. Doch wie er eben zu Marcolina hiervon ein Wort sagen wollte, merkte er, daß dieser geheimnisvolle, herz- und sinnerregende Duft von ihr selber ausging, die den Schal, den sie bisher über den Schultern getragen, über den Arm gelegt hatte, so daß aus dem Ausschnitt ihrer nun loser gewordenen Gewandung aufsteigend der Duft ihres Leibes sich dem der hunderttausend Blumen wie ein von Natur verwandter und doch eigentümlicher beigesellte. Die Äbtissin, immer stumm, führte die Besucher zwischen den Beeten auf schmalen, vielfach gewundenen Wegen, wie durch ein zierliches Labyrinth hin und her; in der Leichtigkeit und Raschheit ihres Gangs war die Freude zu merken, die sie selbst daran empfand, den andern die bunte Pracht ihres Gartens zu weisen; – und als hätte sie's drauf angelegt, sie schwindlig zu machen, wie die Führerin eines heiteren Reigentanzes, schritt sie, immer eiliger, ihnen voran. Plötzlich aber – Casanova war es zumute, als wachte er aus einem wirren Traume auf – fanden sie sich alle im Sprechsaal wieder. Jenseits des Gitters schwebten dunkle Gestalten; niemand hätte zu unterscheiden vermocht, ob es drei oder fünf oder zwanzig verschleierte Frauen waren, die hinter den dichtgestellten Stäben wie aufgescheuchte Geister hin und her irrten; und nur Casanovas nachtscharfes Auge war imstande, in der tiefen Dämmerung überhaupt menschliche Umrisse zu erkennen. Die Äbtissin geleitete ihre Gäste zur Tür, gab ihnen stumm das Zeichen, daß sie entlassen seien, und war spurlos verschwunden, ehe jene nur Zeit gefunden hatten, ihr