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Eintritt in die Ortschaft sah. Auf ihre Erkundigung sagte man ihr, daß es eine berühmte Schule sei, in die Kinder beiderlei Geschlechts aus der ganzen Umgegend kamen, weil sie hier eine vorzügliche Erziehung genossen »Gehen Sie nur hin,« sagte der Auskunftgeber, »wenn Sie, wie ich annehme, eine Stelle suchen.« Es gibt da immer welche, die frei sind. Herrn Rodin, den Besitzer wird es sicherlich freuen, Ihnen nützlich sein zu können. Er ist ein hochachtbarer Mann, der in ganz Saint-Marcel die größte Liebe und Verehrung genießt.
Justine zögerte nicht länger. Sie klopfte an und was sie in diesem Hause erlebte, soll nun im nächsten Kapitel erzählt werden.[81]
VI. Kapitel.
Unsere Heldin war 17 Jahre alt, als sie sich Herrn Rodin vorstellte. Ihre nunmehr voller entwickelten Züge waren voll süßen Zaubers, ihre ganze Person besaß trotz des erlittenen Kummers einen Grad der Vollkommenheit, der sie zu einem der schönsten Mädchen machte, die man sich vorstellen kann.
»Sie wollen sicherlich Spaß mit mir treiben, Fräulein,« sagte Rodin zu ihr, indem er sie sehr nett empfing, »wenn Sie sich mir als Dienerin anbieten. Bei den tausendfachen Reizen, die Sie besitzen, ist man nicht gezwungen zu dienen. Wenn man von der Natur so ausgezeichnet wurde, kann man nicht das Opfer des Schicksals werden, und ich könnte eher von Ihnen Befehle empfangen, als Ihnen welche geben.«
»Und trotzdem, mein Herr, muß ich mich bitter über mein Schicksal beklagen!« – »Das ist eine Ungerechtigkeit, die wir aufheben werden, mein Fräulein« Und als ihm Justine ihr Mißgeschick erzählt hatte, fuhr der geschickte Betrüger fort: »Das ist aber schrecklich. Dieser Herr von Bressac ist ein Ungeheuer, den man schon seit langem wegen seiner unerhörten Ausschweifungen kennt, und Sie können sich glücklich schätzen, daß Sie seinen Händen entronnen sind. Aber ich behaupte noch immer, schöne Justine, daß Sie nicht dazu geschaffen sind, zu dienen. Wenn mein Haus Ihnen gefällt, steht es; Ihnen offen. Ich habe eine Tochter, die eben 14 Jahre alt geworden ist und die glücklich sein wird, in Ihrer Gesellschaft leben zu können. Sie werden an unserem Tische essen und unsere Mühen um diese interessante Klasse der Menschheit teilen, die ganz Frankreich uns anvertraut. Sie werden mit uns an dem verdienstlichen Werk teilnehmen, die Talente der Jugend zu entwickeln und ihre Sitten auszubilden.«
Gab es eine Beschäftigung auf der Welt, die dem sanften und gefühlvollen Charakter unserer Heldin besser zugesagt hätte. Tränen rannen ihr aus den Augen und sie küßte mit stürmischer Dankbarkeit die Hand ihres Wohltäters. Aber der geschickte Rodin entzog sich diesen Empfindungsausbrüchen. Rosalie kam, Justine wurde ihr vorgestellt und bald verbanden Bande der innigsten Zärtlichkeit diese beiden jungen reizenden Mädchen.[82]
Bevor wir weiter reden, müssen wir noch erzählen, daß Justine ungemein begierig war, zu erfahren, was sich seit ihrer Flucht auf dem Schlosse Bressacs zugetragen habe. Sie beauftragte mit dieser Sendung ein junges, kluges Bauernmädchen, das ihr versprach, sobald als möglich Erkundigungen einzuziehen. Unglücklicherweise schöpfte man Verdacht, man fragte sie aus und das einzige, was sie nicht verriet, war der Ort, von dem aus man sie geschickt hatte. »Nun gut, so bewahren Sie Ihr Geheimnis,« sagte Bressac, »aber wo immer diese Schurkin sein möge, übergeben Sie ihr diesen Brief und sagen Sie ihr, sie möge sich in acht nehmen.« Jeanette eilte hastig zurück und überbrachte Justine folgenden Brief:
»Eine Verbrecherin, die meine Mutter getötet hat, ist so frech jemanden nach dem Ort ihres Verbrechens zu schicken. Das Klügste, was sie machen kann, ist, sorgfältig ihren Aufenthaltsort zu verbergen. Sie kann sicher sein, Unangenehmes zu erleben, wenn man sie entdecken würde. Wenn sie aber nochmals jemanden schicken wollte, würde man den Boten einsperren. Uebrigens ist es gut für sie zu erfahren, daß die Geschichte mit der Conciergerie. die sie für erledigt hielt, noch nicht abgetan ist. Die Verordnung ist noch nicht aufgehoben. Sie möge also selbst beurteilen, um wie viel schwerer die zweite Anklage gegen sie wirkt!«
Justine glaubte ohnmächtig zu werden, als sie den Brief las. Sie überreichte ihn Rodin, der sie beruhigte und hierauf fragte sie Jeanette weiter aus. In der Furcht, verfolgt zu werden, hatte diese den Weg nach Paris eingeschlagen, hatte dort übernachtet und sich dann am nächsten Tage in aller Frühe auf den Heimweg gemacht. Im Schloß sei alles in größter Verwirrung gewesen. Die Verwandten waren da, Leute von Gericht waren gekommen und der verzweifelt tuende Sohn klagte Justine allein des Mordes an. Mehrere vorher vorgekommene Diebstähle, die Bressac auch auf Justine schob, brachten Licht über dieses zweite Verbrechen, und selbst wenn er es nicht selbst begehen gesehen hätte, so sagte er, könnte man niemanden anderen mehr verdächtigen.
Uebrigens wurde Bressac durch diese neue Erbschaft viel reicher, als man geglaubt hatte. Der Inhalt des Geldschrankes, die Einrichtung und die Juwelen setzten den jungen Mann, abgesehen von seinen Renten, in den Besitz von mehr als einer Million, und man behauptete, er könne unter dem geheuchelten Schmerz nur schwer seine Freude verbergen. Einen Augenblick lang schienen die Wunden am Leichnam den Schuft in Verlegenheit bringen zu sollen. Aber Bressac zerstreute durch die Lüge, ein Hund sei durch Versehen vierundzwanzig Stunden lang in dem Zimmer eingesperrt gewesen, bevor die Priester aus Paris kamen, jedes Bedenken des Wundarztes.
»Der Himmel lädt mir ein neues Kreuz auf,« sagte Justine zu sich. »Durch eine unglaubliche Fügung des Schicksals werde ich nun eines Verbrechens; angeklagt, dessen Erwähnung mir[83] schon abscheulich dünkte, und derjenige, der meinen Arm geleitet hat, der allein an diesem niederträchtigen Muttermord schuldig ist, er ist glücklich, reich und vom Glück begünstigt. Höchstes Wesen du!« fuhr sie unter Tränen fort, »dein Wille geschehe, ich bin nur dein Werkzeug.«
Nun wollen wir den Lesern eine Beschreibung der Leute geben, bei denen Justine sich befand und erklären, weshalb sie so liebenswürdig empfangen wurde.
Rodin, der Herr des Hauses, war ein groß gewachsener Mann von sechsunddreißig Jahren, besaß braunes Haar, dichte Augenbrauen, ein lebhaftes Auge und machte im allgemeinen den Eindruck eines kräftigen, aber wollüstigen Menschen. Er war Wundarzt aus Neigung für diesen Beruf, leitete ein Pensionat, um sich besser seinem Ausschweifungen hingeben zu können und besaß, abgesehen von den Einkünften seines Berufes, eine jährliche Rente von 20000 Francs. Eine wunderschöne Schwester,