Justine oder vom Missgeschick der Tugend - Page 31

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denn, daß sie in uns die Fähigkeit hineingelegt haben sollte, ihr zu schaden? Verträgt sich diese unsinnige Annahme mit der erhabenen Sicherheit, mit der sie ihre Ziele verfolgt? Heißt es aber der Natur schaden, wenn man sie nachahmt? Kann sie dadurch verletzt werden, wenn der Mensch seinem Nebenmenschen das zufügt, was sie selbst jeden Tag tut? Da doch erwiesen ist, daß sie nur nach Zerstörungen weiter erzeugen kann, so handelt man doch nach ihrer Absicht, wenn man ununterbrochen zerstört. Wird nicht unter diesem Gesichtspunkte der Mensch, der am leidenschaftlichsten und am häufigsten mordet, ihr bester Diener sein? Die hervorstechendste und schönste Eigenschaft der Natur ist die Bewegung, die unausgesetzt in ihr herrscht. Aber diese Bewegung ist nur eine ununterbrochene Folge von Verbrechen. Nur durch die Zerstörung erhält und erneuert sie sich. Andererseits muß ein untätiges, faules, das heißt ein tugendhaftes Wesen in den Augen der Natur zweifellos etwas ganz Unvollkommenes sein, da sein Streben nach dem Frieden und der Ruhe hinzielt, die unzweifelhaft wieder Alles in das Chaos zurücktreiben würde. Das Gleichgewicht muß erhalten werden, und das geschieht nur durch Verbrechen. Das Verbrechen liegt also in den Absichten der Natur und kann sie daher nicht verletzen. Wen aber sonst könnte es verletzen, wenn nicht sie?

Aber das Geschöpf, das ich vernichte, ist meine Mutter. Wir wollen nun von diesem zweiten Gesichtspunkte aus den Mord betrachten.

Der Grund, weshalb sich eine Frau zu einem ehelichen Beischlaf entschließt, ist sicherlich nur in der zu erwartenden Wollust zu suchen. Wenn diese Tatsache feststeht, so frage ich, worauf die Dankbarkeit im Herzen des aus dieser egoistischen Handlung hervorgegangenen Wesens beruhen soll? Hat die Mutter dabei für sich oder für ihr Kind gearbeitet? Ich glaube[72] nicht, daß man das überhaupt in Frage ziehen kann. Jedoch das Kind wird geboren und die Mutter nährt es. Sollen wir in dieser zweiten Handlung den Grund für die Dankbarkeit suchen? Nein, sicherlich nicht. Wenn die Mutter ihrem Kind diesen Dienst leistet, so geschieht es sicherlich nur wegen des natürlichen Gefühls, das sie dazu treibt, sich einer Drüsenabsonderung zu entledigen, die ihr sonst gefährlich werden könnte. Sie ahmt bloß das Tierweibchen nach, das auch durch eine Stauung der Milch in Todesgefahr geraten kann. Beide können sich aber der Milch nicht anders entledigen, als daß sie das Junge saugen lassen, das seinerseits wieder durch eine ähnliche Empfindung zur mütterlichen Brust getrieben wird. So leistet nicht die Mutter dem Kinde einen Dienst, wenn sie es nährt, sondern es ist das Gegenteil der Fall, da die Mutter ohne Mithilfe des Kindes zu künstlichen Mitteln greifen müßte, deren Anwendung nicht ungefährlich ist. Da haben wir nun das Kind geboren und genährt, ohne daß wir noch einen Grund zur kindlichen Dankbarkeit gefunden hätten. Wollen Sie mir aber die Pflege vorhalten, die man in der Kindheit genießt? Ah, sehen Sie in den Bemühungen keinen anderen Grund als den Mutterstolz. Die stumme Natur befiehlt der Menschenmutter nicht mehr als dem Tierweibchen. Was über die für das Leben des Kindes und für die Gesundheit der Mutter nötige Mühewaltung geht, ist nicht mehr von der Natur eingegeben, denn das Kind kann auch allein aufwachsen und kräftig werden. Ihre Unterstützung ist vollkommen überflüssig und nur aus Gewohnheit und Eitelkeit verlängern die Frauen ihre Sorgfalt. Aber statt daß sie dem Kinde nützlich sind, schwächen sie im Gegenteile seinen Instinkt und bewirken, daß es seine Energie verliert. Ich frage Sie nun, ob ein solches Kind, dessen Mutter eine Mühe verschwendet, von der es nicht nur nichts hat, sondern die ihm sogar schadet, sich in Dankbarkeit verpflichtet fühlen soll? Sie werden zugeben, daß eine Bejahung dieser Frage der höchste Unsinn wäre. Nun ist aber das Kind im Alter der Reife und noch immer haben wir keinen Grund zu einer Anhänglichkeit gefunden; ja, wenn es nunmehr seinen Gedanken nachgeht, kann es nur von Empfindungen des Hasses beseelt werden für die, der es das Licht der Welt verdankt. Sie ist die Urheberin seiner Schwächen, der schlechten Eigenschaften seines Blutes, seiner Laster wie überhaupt eines Daseins, das nur zum Unglücke bestimmt ist. Liegen aber in diesen Empfindungen Grund zur Dankbarkeit, oder ist in ihnen vielleicht mehr Anlaß zu einer starken Abneigung gegen eine solche Frau vorhanden? Das Kind muß seine Mutter hassen, und da die Frucht des Hasses der Racheduft ist, und dieser wieder den Mord zur Folge hat, so rate ich jedem, der in der glücklichen Lage ist, über die Lebenstage seiner Mutter verfügen zu können, sie mitleidlos hinzuopfern. Er begeht damit keine[73] schlimmere Tat, als wenn er ein anderes Geschöpf ermorden würde, ja er hat im ersteren Fall sogar noch die Entschuldigung für sich, vom Haß und der Abneigung angetrieben worden zu sein. Machen denn die Tiere so viel Federlesens mit den Wesen, denen sie das Licht der Welt verdanken? Nein, sie befriedigen sich an ihnen und töten sie, ohne daß sich die Natur auch nur rührt.

Wenn Sie einmal diese Philosophie in sich aufgenommen haben werden, werden Sie einsehen, daß Sie in der Welt allein dastehen, daß alle Fesseln, mit denen Sie sich selbst angeekelt haben, nur Menschenwerk sind. Ein Sohn glaubt seinen Vater zu benötigen und der Vater seinerseits glaubt wieder, den Sohn nötig zu haben. Das ist der Kitt für diese sogenannten heiligen Bande. Aber ich bestreite, daß man ihn in der Natur finden kann. Lasse also deine Vorurteile beiseite, Justine, und helfe mir. Dein Glück soll dann gemacht sein.«

»O, mein Herr,« erwiderte das arme Mädchen ganz erschreckt, »die Gleichgiltigkeit, die Sie der Natur zuschreiben, ist nur das Resultat der Spitzfindigkeiten ihres Geistes. Horchen Sie eher auf die Stimme Ihres Herzens, die sicherlich alle diese falschen Ansichten verdammen wird. Ich weiß, die Leidenschaften verblenden Sie jetzt; aber sobald sie nicht mehr von ihnen aufgewühlt werden, werden Sie von schrecklichen Gewissensbissen erfaßt werden. O, mein Herr, hegen Sie und achten Sie das Leben dieser zärtlichen und teuren Freundin. Opfern Sie es nicht hin, Sie würden vor Verzweiflung umkommen. Jeden Tag und jeden Augenblick würden Sie diese geliebte Mutter vor Augen haben, die ihr blinder Zorn in die Gruft gebracht hat. Sie würden ihre klagende Stimme

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Veröffentlicht / Quelle: 
Marquis de Sade: Die Geschichte der Justine. 1906
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