Justine oder vom Missgeschick der Tugend - Page 30

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besitzt – überzeugen zu können, daß dieses Verbrechen, das Dir so ungeheuerlich scheint, im Grunde genommen eine sehr einfache Sache ist.[69]

Zwei Verbrechen zeigen sich in diesem Falle deinem wenig philosophisch gebildeten Geist: Die Vernichtung eines Geschöpfes, das uns gleicht, und ferner eines Geschöpfes, das uns sogar nahesteht. Was das Verbrechen eines Mordes an seinem Nächsten betrifft, so kannst du beruhigt sein, teures Mädchen: es ist nichts als eine Chimäre; denn den Menschen ist die Macht zu zerstören nicht gegeben, er kann höchstens die Formen verändern. Nun ist aber jede Form in den Augen der Natur gleich und in dem ungeheuren Kreislauf, in dem sich diese Veränderungen abspielen, geht nichts verloren. Folglich kann es doch der Schöpferhand der Natur ganz gleichgiltig sein, ob die Fleischmasse, aus der heute ein Mensch geformt ist, sich morgen in tausend verschiedene Insekten verwandelt. Wenn man mich überzeugen könnte, daß unser Geschlecht für die Natur von solcher Bedeutung ist, daß ihre Gesetze durch eine derartige Umgestaltung verletzt werden, dann erst würde ich glauben, daß der Mord ein Verbrechen ist. So aber sage ich: derjenige, der diese Umgestaltung bewirkt, begeht nicht nur kein Verbrechen, sondern sogar ein gutes Werk. Denn er zerlegt durch diese, fälschlich Verbrechen genannte Handlung die Individuen in ihre Grundstoffe und gibt der Natur dadurch seine schöpfende Energie, die ihr derjenige raubt, der in seinem blöden Stumpfsinn keine solche Umwandlung vorzunehmen wagt. Der Mensch, dieses eitle Geschöpf, ging von der falschen Anschauung aus, er sei das Meisterwerk der Schöpfung und daher könne ein Mord nur eine verbrecherische Tat sein. Aber seine Eitelkeit ändert nicht die Naturgesetze, und es gibt kein Wesen, das nicht im Grunde seines Herzens den heftigen Wunsch empfände, von denjenigen befreit zu werden, die ihm lästig fallen oder deren Tod ihm Vorteile einbringen kann. Und von diesem Wunsch zur Tat, Justine, kann doch der Schritt nicht so groß sein. Ueberdies mußt du bedenken, teures Mädchen, daß wir nichts empfinden, was nicht der Natur zur Erreichung ihrer Ziele dient. Benötigt sie neue Wesen, so flößt sie uns Liebe ein. Wird ihr die Zerstörung notwendig, so pflanzt sie in unsere Herzen Rachedurst, Geiz, Wollust und Ehrgeiz. Aber sie arbeitet immer nur für sich selbst und wir sind nur die schwachen Werkzeuge ihrer Launen.

Im Weltall ist Alles den Gesetzen der Natur unterworfen. Beachten wir wohl, daß das Leben des Menschen von ihnen ebenso abhängt, wie das der Tiere. Beide Formen des Lebens sind den allgemeinen Gesetzen des Stoffes und der Bewegung Untertan. Wie kann man nur sagen, daß der Mensch über das Leben der Tiere verfügen kann, aber über das seines Nächsten kein Recht hat? Wie kann man solche Sophismen anders rechtfertigen als durch die Eigenliebe und den Stolz. Alle Tiere sind in der Welt auf ihre eigene Klugheit angewiesen und werden gleicherweise bald Mörder bald Opfer. Sie haben alle gleichmäßig[70] das Recht erhalten, in die Tätigkeit der Natur einzugreifen und sie üben es aus, so gut es ihnen möglich ist. Wenn man also die richtigen Konsequenzen zieht, wird es klar, daß jeder Mensch das Recht besitzt, über das Leben seines Nächsten zu verfügen und von einer Macht Gebrauch zu machen, mit der ihn die Natur ausgestattet hat. Nur die Gesetze dürfen das aus zweierlei Gründen nicht tun. Erstens, weil sie nicht die Berechtigung dazu im Egoismus haben, der die mächtigste und rechtlichste Entschuldigung ist, und zweitens, weil sie immer kalten Blutes und mit freiem Willen handeln, während der Mörder immer von seinen Leidenschaften hingerissen wird und immer das blinde Werkzeug einer Natur ist, die ihn gegen seinen Willen zwingen kann. Daraus geht hervor, daß die Hinrichtung eines Verurteilten einem philosophisch geschulten Geist als ein Verbrechen erscheint, während der Dummkopf Ehrfurcht vor dem Gesetz empfindet. Bei einem Mord aus Leidenschaft aber sieht er nur Gerechtigkeit walten, wo der Stumpfsinn nur Verbrechen und Niederträchtigkeit bemerken kann.11

O, Justine, überzeuge dich doch, daß das erhabene Leben des Menschen für die Natur von keiner größeren Bedeutung ist, als das einer Auster. Wenn dem nicht so wäre, dann dürfte ich auch nicht wagen, mich zu widersetzen, wenn sie zerstören will, und es wäre ein ebenso großes Verbrechen, wenn ich den Stein abwenden wollte, der meinen Nachbarn zerschmettern soll, wie wenn ich ihm den Dolch in die Brust stieße. In beiden Fällen würde ich ja dem Walten der Natur entgegentreten. Ein Haar, ein Fliege, ein Insekt können einen kräftigen Menschen töten, dessen Leben uns von solcher Bedeutung scheint. Liegt also in dem Glauben, unsere Leidenschaften könnten über eine von so nichtigen Ursachen abhängige Sache rechtmäßig verfügen, ein Unsinn? Wie? Ich wäre nicht strafbar, wenn ich den Lauf des Nils oder der Seine hemmen würde und ich bin es, wenn ich einige Unzen Blut aus seinen natürlichen Kanälen entferne? Welch ein Wahnsinn! Wenn das Individuum, das ich auflösen will, tot sein wird, werden die Bestandteile, aus denen es zusammengesetzt ist, auch weiterhin ihren Platz im Weltall haben und werden der großen Maschine ebenso nützlich sein wie vorher, als sie noch besagtes Wesen bildeten. Ob dieser Mensch nun lebt oder tot ist, nichts ändert sich im Weltall und nichts geht verloren. Es ist also geradezu eine Lästerung, wenn man sagt, daß ein so vergängliches Geschöpf wie der Mensch[71] überhaupt die Weltordnung stören kann. Das hieße an ihm eine Macht voraussetzen, die er unmöglich von seiner Allmutter erhalten haben kann. Ja, ich gehe noch weiter: Wenn der Mord eine Missetat ist, dann ist er es in allen Fällen, und die Nationen, die Menschen zum Massenmord hinausstellen, sind entweder auch schuldig oder auch unschuldig. Handeln sie verbrecherisch, dann kann ich es nach ihrem Beispiel auch sein; denn die Summe der Leidenschaften und der Interessen einer Nation ist nur das Ergebnis aus den Leidenschaften und Interessen der Einzelnen. Ist ihre Handlung nicht verbrecherisch, dann kann ich doch ganz sicher ihr Beispiel nachahmen, so oft es mein Interesse erfordert. Und wofür halten sie dann das Wesen, das behauptet, ich hätte ein Verbrechen begangen?

Nein, nein, Justine. Die Natur läßt nicht in unseren Händen die Möglichkeit, Missetaten zu begehen, wenn das ihren Gang stören könnte. Was sind wir

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Veröffentlicht / Quelle: 
Marquis de Sade: Die Geschichte der Justine. 1906
Prosa in Kategorie: 
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