Gute Nacht Merlin - Protokoll eines Trauerjahres - Page 24

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von Cleo Cleo

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davon aus dem Nachlass - hat aber andererseits deutlich gemacht, dass sie keinen weiteren Kontakt zu ihr wünsche, und ihr gesagt, dass es wenig Sinn habe, sich um das Grab zu kümmern, das sei „Angelegenheit der Familie“... und DAS geht ihr gewaltig gegen den Strich – sie denkt wieder darüber nach, Merlins Asche zu stehlen... was hat ER in diesem Kreis von saturierten Bürgern zu suchen...?
Spät nachts, als sie wieder keinen Schlaf findet, sitzt sie lange auf den Stufen vor der Haustür – raucht eine Zigarette nach der anderen und starrt in den Nachthimmel. Und langsam wandelt sich ihre Traurigkeit in unbändigen Zorn... NEIN NEIN UND NOCHMALS NEIN! DAS ist nicht IHR Weg...
07. August 2017
Sie hat sich in einer ausführlichen Mail an ihre Freundin Cornelia ihren Kummer und ihre Wut von der Seele geschrieben. Cornelia antwortet postwendend: „Tobe, wüte, zweifle – aber verzweifle nicht....“ und schlägt ein Treffen vor.
Nach einem ausführlichen Gespräch mit ihr ist sie etwas gelassener. Sie müsse das nicht persönlich nehmen, wenn diese Frau keinen weiteren Kontakt mit ihr wünsche:, sagt Cornelia: „Überleg doch mal... was haben Wohltemperiertheit und Leidenschaft, Feuer und Wasser mit einander zu tun? - Nichts! Ihr hättet doch auch gar keine gemeinsamen Themen – außer dem Merlin... sie kommt aus einer ganz anderen Welt als du... im übrigen: ich finde diese Ratschläge gelinde gesagt ungeschickt. Aber überleg mal, ob du dir nicht noch ein zweites Bild hinstellst auf dem er lächelt...“
Sie zeigt ihrer Freundin ein Selfie, auf dem er sich abgelichtet hat im Blaumann – einen Farbpinsel in der Hand und ein verschmitztes Lächeln im Gesicht. Erst auf den zweiten Blick sieht man, dass sein Kleiner Kollege vorwitzig aus der Hose herauslugt.. Außenstehende mögen dieses Foto als indezent oder taktlos empfinden – ihr gefällt es, weil es sein spezifisches Verhältnis zu ihr zum Ausdruck bringt – und wegen des spitzbübischen Lächelns...
September 2017
In diesem Monat unternimmt sie erste Gehversuche als Sexualassistentin. Sie hatte sich in einer Agentur eingeschrieben, die Sexualassistentinnen vermittelt - und anscheinend ist das ein Mangelberuf -zumindest in Ostwestfalen. Innerhalb weniger Wochen bekommt sie drei Anfragen aus verschiedenen Altenheimen. Und wenn sie sich ihre Schutzbefohlenen anschaut: alle gehbehindert, einer auch geistig ziemlich weggetreten - aber alle noch den Kopf voller Flausen - dann denkt sie: “Wer weiß, was dem Merlin erspart geblieben ist, als er sich SO aus DIESEM Leben verabschiedet hat”.
Sie erinnert sich an die ersten Anzeichen körperlichen Verfalls im Sommer 2016... Gichtanfälle... Kreislaufprobleme... zum ersten Mal hatte er für seinen Tennisclub bei den Meisterschaftsspielen nicht den Klassenerhalt sichern können, weil ihm plötzlich schwindelig geworden war und er das Spiel abbrechen musste... und wie sehr ihn das gewurmt hatte...
22. September 2017
Sie sitzt in der Bahn von Soest nach Hamm. Dort muss sie umsteigen, wenn sie zurück nach Gütersloh will. Auf ihrem Gesicht liegt ein leises Lächeln.
Schön, dass Merlins Haus jetzt wieder eine Seele hat, denkt sie.
Vormittags hat sie sich spontan entschlossen, dorthin zu fahren – im Gepäck diesmal einen kleinen Ginkgo, den sie vorsichtshalber in einem Gartenmarkt gekauft hat. Er soll einen Platz In Merlins Garten bekommen – denn der kleine Ginkgo , den sie im Frühsommer dort gepflanzt hat, könnte die Umgestaltung des Gartens nicht überstanden haben. Sie kannte den Namen der neuen Besitzer nicht, entschloss sich spontan, dorthin zu fahren. Auf einem Freitag Nachmittag ist die Chance, sie anzutreffen, am größten... Nach einigen Verspätungen und Hindernissen steht sie schließlich gegen 16.00 vor der Tür dieses Hauses, das sie zuletzt im Juni als Baustelle erlebt hat. Als sie klingelt, öffnet ihr ein noch relativ jung wirkender schlanker blonder Mann. Sie stellt sich vor – aber als sie ihm erklären will, was ihr Anliegen ist, kommen ihr auf einmal wieder die Tränen. Der Mann bittet sie ins Haus – sie sitzt in der Diele am Esstisch, er schenkt ihr ein Glas Wasser ein, seine Frau setzt sich dazu.
Sie holt tief Luft und erzählt, was es mit dem Bäumchen auf sich hat – und dass sie den Merlin so sehr lieb hat... die Beiden nicken mitfühlend. Sie haben schon vorher in der Nachbarschaft gewohnt, kennen die Familie. Sie sprechen über die Verstorbenen, sie spürt die freundliche Zuwendung die ihr diese beiden Menschen entgegenbringen.
“Die beiden Zwillinge (Merlins mittlere Söhne) waren ja auch oft hier -und einer von ihnen hat mal gesagt, wie schön es gewesen ist, dass die beiden noch so viel mit einander haben machen können... die schönen Reisen... das tröste ihn irgendwie...“
Sie beratschlagen gemeinsam über einen passenden Standort für den Ginkgo...Ja... Dort auf der Böschung soll er stehen – oberhalb der Terrasse mit dem Quellstein.
„Wir werden das Bäumchen in Ehren halten“, verspricht ihr der Mann – und sie glaubt es ihm. Gemeinsam gehen sie in den Garten – und sie sieht, dass der Brunnen mit dem Putto immer noch auf seinem alten Platz steht. Aber die Böschung, wo sie im Frühling den kleinen Ginkgo eingepflanzt hatte, ist ausgelichtet. Gut, dass ich für Ersatz gesorgt habe, denkt sie....
Das es nicht DER Ginkgo ist , den sie ihm hatte schenken wollen, sondern bereits ein Ersatz... Wen interessiert das schon? Er sollte einen Ginkgo als Geschenk haben- und nun steht so ein Bäumchen in seinem Garten und die neuen Besitzer passen auf ihn auf...
Als sie sich verabschiedet, ist ihr leicht und froh ums Herz. Das Haus hat jetzt seine Seele zurück bekommen, das spürt sie. Und der Gute Geist, der zu Merlins Lebzeiten dort gewaltet hat, ist auch wieder da...
Auf dem Rückweg zur Bushaltestelle geht sie zu Merlins Grab. Der Rittersporn, den sie im Frühsommer gepflanzt hatte, ist verschwunden – aber die kleine Grablaterne aus Bronze ist noch da – und jemand hat frische Blumen hingestellt.
„Dein Haus ist in guten Händen, Merlin“, sagt sie. „Deine Söhne hätten keine bessere Wahl treffen können.“
„Vier Mal war ich jetzt an seinem Grab“ , denkt sie bei der Rückfahrt. „Aber dieses Mal fahre ich zum ersten Mal nach Hause, ohne zu weinen..“
25 September 2017
Sie sitzt in der Fußgängerzone von

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Der Bilderzyklus von dem in diesen Aufzeichnungen die Rede ist, kann auf der Facebook-Seite "Eros und Thanatos - Liebe und Tod" eingesehen werden

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