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Gütersloh auf einer Bank. Ausnahmsweise kein Regen. Sie nimmt ihr Handy und ruft Mario an.
„Ich freue mich diebisch darüber, dass das Haus ihrer Eltern in so guten Händen ist“, sagt sie. Und erzählt ihm die Geschichte vom Ginkgo. „Sehen Sie.... sehen Sie...“ sagt ihr Gesprächspartner.
Es klingt freundlich, beschwichtigend und irgendwie erleichtert. Nach der Devise: „Es wird schon alles wieder in Ordnung kommen“.
Daraufhin startet sie einen Versuchsballon: sie erzählt ihm von ihren ersten Erfahrungen als Sexualassistentin. Er hört zu – freundlich-distanziert aber durchaus verständnisvoll.
„Ein Pflegefall zu sein... das hätte mein Vater sich WIRKLICH nicht gewünscht....“pflichtet er ihr bei. Sie lädt ihn zur Vernissage nach Bielefeld ein. Dort soll der Epitaph - Bilderzyklus zum ersten Mal komplett gezeigt werden. Vielleicht kommt er ja tatsächlich....
06. Oktober 2017
Vernissage im Büro des Künstlerinnenforums. Der kleine Raum ist voller Menschen – sie zählt an die 30 Personen. Von denjenigen die sie persönlich eingeladen hat, ist außer ihrer Freundin Cornelia niemand dabei. Weder ihr Lieblingspfarrer, noch ihr Reiki-Meister – von Mario ganz zu schweigen. „Vielleicht ist manchen Leuten der Weg nach Bielefeld einfach zu weit“, denkt sie. Sie gestaltet mit ihren Texten den Löwenanteil der Vernissage. „Gesang der Geister über den Wassern“ von Goethe, „Nänie“ von Schiller – und dann zwei von ihr verfasste Texte aus der Dokumentation über den Bilderzyklus. Die Resonanz ist gut – später am Abend kommt noch eine Passantin, die zwei Bilder von ihr im Schaufenster gesehen hat und wissen will „was sich hier tut“. Viele der Besucher sind beeindruckt von den farbstarken Bildern. Aber muss man denn wirklich so viel Herzeleid erfahren, um so etwas machen zu können, denkt sie sich... Ach Merlin – es wäre mir lieber, wenn Du noch leben würdest...
10. Oktober 2017
Sie telefoniert mit Merlins Schwager. Er ist freundlich und verständnisvoll, kennt mittlerweile ihre Geschichte – sie hat ihm die Dokumentation geschickt und er hat sich freundlich dafür bedankt. Der erste Mensch, von dem sie eine Rückmeldung bekommen hat. Sie möchte ihn besuchen und ihm einen kleinen Ginkgo schenken – aber in dieser Woche passt es ihm nicht. Sie peilen einen Termin Mitte November an. Zum Jahresseelenamt – wenn es denn eins gibt – werde er nicht kommen können, sagt er. Denn seine Mutter sei mittlerweile sehr hinfällig und könne nicht allein gelassen werden. In ihr keimt der Gedanke auf, überall dort, wo Menschen leben, die Merlin und seine Mona gekannt und geliebt haben, einen Ginkgo zu pflanzen. Vielleicht klappt es ja sogar auf dem Gelände „seines“ Tennisclubs“. Sie beschließt, in den nächsten Tagen nach Soest zu fahren und den Geschäftsführer des Vereins zu kontaktieren...
12. Oktober 2017
Sie fährt nach Soest. In aller Frühe, noch vor 7.00.
Um 9.00 ist sie am Grab. Sie versenkt 30 Blumenzwiebeln für Schneeglöckchen in der Erde und hofft, dass sie im kommenden Frühjahr aufblühen.
Zum ersten Mal geht sie nicht zum Haus. Sie will nicht nachschauen, ob die neuen Bewohner ihr Versprechen gehalten haben oder nicht. So lange sie nicht dort war, kann sie glauben, dass es so ist.
Sie fährt zurück in die Stadt und besucht den Geschäftsführer des Tennisclubs in seinem Büro, bringt ihm einen kleinen Ginkgo .
Der Mann reagiert freundlich und wohlwollend. Natürlich müsse diese Aktion in der Vorstandssitzung besprochen werden - „aber ich bin mir sicher, dass man dort in IHREM Sinne entscheiden wird...“
Das Gespräch dauert nur wenige Minuten – der Mann sagt, er habe wenig Zeit, er erwarte einen wichtigen Anruf. (Die Standardausrede gegenüber Besuchern, die ungelegen kommen.) Sie verabschiedet sich rasch und ist froh, dass sie noch ein Begleitschreiben verfasst hat, das sie jetzt neben den Ginkgo legt.
Als sie nach der Gärtnerei sucht, in der sie im Frühjahr die Blumen für Merlins Geburtstag bestellt hatte, kommt sie an der Soester Filiale des Bestattungsunternehmens vorbei, das seinerzeit die Beisetzung und die Trauerfeier organisiert hat . Dort findet eine Kunstausstellung statt. Sie fragt sich, ob das auch ein Platz für das Epitaph wäre
(die Bestatterin lehnt das, nachdem sie die Dokumentation gesehen hat, ab – die Bilder seien „pietätlos“...)
In den folgenden Tagen nimmt sie Kontakt mit dem Grünflächenamt der Stadt Soest auf. Sie möchte für Merlins Frau ein Gedenkbäumchen stiften. Sie hat auch die Kollegin angesprochen, die vor einem Jahr bei der Trauerfeier gesprochen hatte und damals so sichtbar mit den Tränen kämpfte. Die Frau findet die Idee gut, schlägt den Rosengarten als Standort vor. Wenn sie das Geld gäbe – oder einen Teil davon – dann wolle sie das Bäumchen besorgen. Auch beim Leiter des Grünflächenamtes stößt ihre Anregung auf positive Resonanz. Der Rosengarten solle zwar im kommenden Jahr überplant werden – aber man werde mit Sicherheit eine Möglichkeit finden...
Sie freut sich... denkt schon daran, wie sie Mario mit dieser Nachricht überraschen will...
16. Oktober 2017
Sie versucht, den Termin für das Jahresseelenamt zu erfragen. Eine Mail ans Gemeindebüro blieb unbeantwortet. Jetzt fasst sie telefonisch nach – und bekommt wider Erwarten den Pfarrer selbst ans Telefon.
Ja, es gäbe eine Anfrage der Schwiegertochter – jetzt müsse man sich nur noch auf einen Termin einigen. Sie solle in der kommenden Woche noch einmal nachfragen.
Wenige Stunden später ein Anruf des Pfarrers: ob sie sich vorstellen könne „aus Liebe zu den Angehörigen“ auf ihre Teilnahme am Jahresseelenamt zu verzichten. Sie ist wie vor den Kopf geschlagen. Was soll das? In ihrer ersten Wut beschließt sie, eine Anfrage ans Bistum zu richten. Antwort: ein Gottesdienst ist eine öffentliche Veranstaltung und NIEMAND hat das Recht sie auszuschließen. Sie fragt sich, ob hier eher Überforderung oder die Angst vor einem Ärgernis die Triebfeder des Pfarrers ist. Christliche Nächstenliebe auf gar keinen Fall... DIE scheint sich vor allem auf die Söhne und Töchter der Heiligen Katholischen Mutter Kirche zu beschränken – eine „Sünderin“ wie sie ist da wahrscheinlich außen vor....
23. Oktober 2017
In Email-Fach findet sie eine Nachricht vom Leiter des Grünflächenamts Soest. Ihr Plan, im Rosengarten in den ehemaligen Wallanlagen einen Gedenkbaum für Merlins Frau zu pflanzen, ist vorerst gescheitert. Der von ihr ins Auge gefasste Standort werde im kommenden Jahr überplant – daher sei es
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Der Bilderzyklus von dem in diesen Aufzeichnungen die Rede ist, kann auf der Facebook-Seite "Eros und Thanatos - Liebe und Tod" eingesehen werden