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nicht sinnvoll, dort jetzt noch etwas zu pflanzen. Überdies – und das ist offensichtlich der Hauptgrund für die Ablehnung – ein Mitglied der Familie habe angerufen und gesagt, dass die Familie eine solche Aktion nicht wünsche.
SIE ist wütend, traurig und ratlos. Wer kann sie so unbändig hassen, dass er alles was sie tut, ablehnt? Das Gespräch mit dem Pfarrer fällt ihr ein... sie hatte bei der Kontaktaufnahme etwas von ihren Plänen erwähnt. Hat ER sie bei der Schwiegertochter denunziert? Vielleicht hatte er ja sogar die besten Absichten? Sie sucht das Gespräch mit ihm, es endet doch letzten Endes versöhnlich. Er teilt ihr den Termin für das Jahresseelenamt mit : 01. November, 10.00 Uhr.
Sie will versuchen, ihre Erinnerungen an Merlin festzuhalten. Bei der Durchsicht ihrer Korrespondenz stößt sie auf eine Mail aus dem ersten Jahr ihrer Bekanntschaft. Er schrieb sie zu einem Zeitpunkt, als er befürchtete, Krebs zu haben.:
Ich wünsche mir, dass Du erst dann von meinem Tod erfährst, wenn es zu spät ist....“ DAMALS schon...
(Zu spät... um IHN noch einmal zu sehen ? Er wollte nicht, dass sie ihn verletzbar erlebt – und er wollte nicht, dass sie ihn als Toten sieht. Und genauso ist es ja auch gekommen.... )
31. Oktober 2016
Man kann das Grab schon von der Straße aus sehen und der Anblick erschlägt sie beinahe – es leuchtet förmlich durch die Dämmerung im Licht von sechs Grablichtern. Zwei stehen in den fest installierten Laternen zu Häuptern der Grabhügel, zwei direkt in den Nischen des Grabsteins (jetzt weiß sie endlich, wofür die da sind) und zwei vorne auf den Enden der kornblumenblauen Schärpe des Kranzes. Die gelben Rosen auf dem Kranz scheinen aus sich heraus zu leuchten und die goldene Schrift auf der Schärpe ist gut sichtbar: „Ihr verglühtet wie zwei Meteoriten – JETZT seid ihr die beiden leuchtendsten Sterne im Universum. Danke für alles, was ihr mir schenkt – Cleo“ - und auf der anderen Seite IHR Motto: „Amor in aeternum, quia fortis est ut mors“. Sie stellt die mitgebrachte Kerze in die kleine Grableuchte aus Bronze, die sie im Frühsommer hier hingebracht hat . Es ist so, als ob man ihr bewusst dort ein Plätzchen gelassen hätte...
Ihr Mann hatte angeregt, bereits heute, zum Jahrestag, das Grab zu besuchen - „Was willst Du bei diesem Jahresseelenamt? Da werden nur zweimal die Namen genannt und das ist alles. Außerdem: was hast DU mit dieser Familie zu schaffen?“ Sie verzichtet – ihm zuliebe.
Am Mittag – während SEINER Todesstunde – saß sie mit ihrem Mann in der total überfüllten Apostelkirche in Gütersloh beim Reformationsgottesdienst. Danach unterbreitete er ihr diesen Vorschlag und sie ist darauf eingegangen. Vor dem Besuch des Friedhofs legen sie noch einen kurzen Zwischenstopp beim Pfarramt der Heilig-Kreuz Kirche ein und sie übergibt dem Pfarrer, der - wie üblich – keine Zeit hat – ein Exemplar der Dokumentation des Epitaph-Zyklus.
Sie führen ein durchaus versöhnliches Gespräch mit einander und sie merkt, wie er aufatmet, als sie ihm mitteilt, dass sie am nächsten Tag nicht zum Seelenamt kommen wird. Nach dem Besuch auf dem Friedhof sucht sie gemeinsam mit ihrem Mann die Unfallstelle auf. Es wird eine Odyssee im Dunkeln durch Nebenstraßen und Seitensträßchen, die plötzlich ins Leere führen –
Schließlich orientieren sie sich am Verlauf der B516 – und stehen endlich in der Dunkelheit an dieser verfluchten Kreuzung... Kein Kreuz, keine Blumen, keine Kerzen – auch keine Erinnerung an das dritte Todesopfer...
Sie fahren weiter nach Werl, essen in einem Bistrot zu Abend – in einem unbeobachteten Augenblick ruft sie die Festnetznummer von Mario an.
Seine Frau ist am Telefon. Sie meldet sich: „A.W., wir kennen uns flüchtig. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich morgen nicht zum Jahresseelenamt kommen werde. Sie können also Ihrer Schwägerin ausrichten, dass sie keine Angst vor irgendwelchen Belästigungen von meiner Seite haben muss und keine Angst davor, mir zu begegnen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“
Ehe die andere etwas entgegen kann – wenn sie es denn wirklich gewollt hätte – legt sie auf. Mit dieser Familie ist sie fertig.
Sie denkt daran, wie sehr Merlin an seiner Familie gehangen hat, und wie wichtig sie ihm war. Wie stolz er auf seine Söhne war und auf seine schöne Frau.Wie liebevoll er immer wieder von ihnen erzählte, wie sehr er sie hat teilnehmen lassen an seinem Familienleben....Ach Merlin... Du bist so ein großer Liebender.... warum hast du deine Söhne nicht besser erzogen? Warum sind sie so unfähig zu Empathie? Es ist so schade...
Aber andererseits... was hatte sie denn erwartet? Dass man sie aufnimmt in die Gemeinschaft der Trauernden – ihr gar einen Platz zuweist? Ausgerechnet IHR, die sie dieser gutsituierten, wohlanständigen bürgerlichen Familie allein durch ihre bloße Existenz den Spiegel vorhält und die Wohlfeilheit bürgerlicher Moral demonstriert? Es tut weh – sehr weh... die einzigen Menschen, mit denen sie ihre Trauer teilen könnte, verwehren ihr den Zutritt in ihr Leben. DIE Tür ist zu. Von beiden Seiten. Und für immer.
Alles hat seinen Preis – auch die Liebe.
Dritter Teil: Ende des Trauerjahres – aber kein Ende der Trauer
10.November 2017
Sie macht eine Familienaufstellung bei der Heilpraktikerin, die sie zur Zeit alle zwei Monate konsultiert. Das Ergebnis erschüttert sie : Merlin könne sich nicht frei entfalten, weil er „festgehalten“ werde – und zwar von ihr und von seiner Familie. Sie hätten gemeinsam, dass sie ihn anklagten:
„Wie konntest Du? Warum hast Du uns/Mich verlassen?“.
Sie spürt intensiv die Trauer, den Schmerz und und die Sehnsucht nach Kommunikation, als sie auf dem Platz steht, der sich später als der Platz seiner Familie entpuppt. Die Heilpraktikerin rät ihr, bis auf weiteres jegliche Kontaktversuche einzustellen und seine Bilder beiseite zu legen.
(Kann es sein, dass SIE in dieser Familie eine Stellvertreter-Funktion übernommen hat? Dass sie den Löwenanteil der Trauerarbeit leistet, die die anderen nicht leisten können oder leisten wollen? Dass diese massive Abwehr und Aggression ihr gegenüber DAHER rührt? )
Sie zündet abends im Wohnzimmerfenster keine Kerze mehr an – und sie hat das
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Der Bilderzyklus von dem in diesen Aufzeichnungen die Rede ist, kann auf der Facebook-Seite "Eros und Thanatos - Liebe und Tod" eingesehen werden