Gute Nacht Merlin - Protokoll eines Trauerjahres - Page 22

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von Cleo Cleo

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Bild fertiggestellt, das sich mit dem Sitting auseinandersetzt... Seine Frau reicht ihr auf diesem Bild den Kelch der Liebe und der Vergebung – er steht schützend hinter den beiden Frauengestalten....

09. Juni 2017
Ungeschriebener Brief an eine junge Frau....
Sehr geehrte Frau Melina W. -
ich danke Ihnen für das kurze Gespräch das wir vor einigen Tagen hatten. Sie haben mir geholfen, manches klarer zu sehen. Ich weiß zwar nicht, warum es offensichtlich diesen innerfamiliären Konsens gibt, mich wie eine Aussätzige zu behandeln – aber ich nehme auch DAS als eine Lektion, die mir das Leben erteilen will. Ich als erwachsene Frau habe bis zu einem bestimmten Augenblick meines Lebens allen Ernstes folgenden Unsinn geglaubt:
Ein Mensch, der der Sohn eines integren, aufrichtigen, lebensklugen und warmherzigen Mannes ist, MUSS naturgemäß AUCH ein integrer, aufrichtiger, lebenskluger und warmherziger Mensch sein.
Seitdem ich das Sechswochen-Seelenamt für Ihre Schwiegereltern besucht habe, weiß ich, dass das eine Illusion ist . Auch ein Mensch mit einem so wundervollen Vater kann sehr wohl ein kaltschnäuziger, engstirniger und egoistischer Selbstoptimierer sein:
Jemand, der das bisschen Zuneigung, zu dem er imstande ist, -teelöffelweise verteilt an auserlesene Mitglieder seines Familien-, Freundes – und Bekanntenkreises. Und natürlich IMMER unter der Prämisse, dass diese Investition sich lohnen muss.
Die verbale Entgleisung, die sich Ihr Mann im Vorfeld des Sechswochen-Seelenamtes mir gegenüber geleistet hatte, habe ich damals nicht weiter kommentiert. Ich habe sie zur Kenntnis genommen und ihm zugute gehalten, dass er sich – genau wie wir alle – in einer emotionalen Ausnahmesituation befunden hat. Und da verliert man schon einmal die Selbstkontrolle. Sie können aber versichert sein, dass ich unter normalen Umständen ein solches Verhalten mir gegenüber niemals geduldet hätte. Denn diese Äußerung ist nicht nur eine Flegelei – sie ist ein verbaler Genickschuss.
Seit gestern weiß ich , dass Sie ihrem Mann durchaus gewachsen sind... Auf meine Frage, wie es Ihnen geht, antworteten Sie mit einem kühlen „Alles OK“... und machten weiterhin deutlich, dass Sie kein Gespräch mit mir wünschen.
Ich gratuliere Ihnen, liebe Melina W.!
Sie haben ja auch vollkommen recht: es ist ja alles wunderbar geordnet. Das Elternhaus ist verkauft, das Erbe aufgeteilt, die Pflege des Grabes übernimmt die Friedhofsgärtnerei... jetzt kann man getrost zur Tagesordnung übergehen und anfangen, zu vergessen.
Zu dumm, wenn dann jemand wie ich auftaucht, und wieder den Finger in die Wunde legt. Und ich verspreche Ihnen hoch heilig: ICH werde Ihren Schwiegervater, meinen geliebten Freund, den weisen Merlin – nicht vergessen.
Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg. Menschen wie Sie sind genau der Menschenschlag, den unsere Gesellschaft braucht – Ihnen – und auch Ihrem Mann – steht mit Sicherheit noch eine große Karriere bevor.
Hochachtungsvoll....“

Sie hat diesen Brief niemals abgeschickt – und das ist gut so....
13. Juni 2017
Sie hatte lange suchen müssen, bis sie den passenden Tattoo-Künstler gefunden hatte und dann gab es immer wieder Verzögerungen – aber heute ist es nach einem langen Hin und Her endlich soweit: sie hat ihre Session im Tattoo-Studio.
Die Prozedur ist schmerzhaft, denn die Haut auf der Innenseite des Unterarmes ist sehr dünn... aber sie beißt die Zähne zusammen und hält durch... es scheint ihr, als ob der körperliche Schmerz ihr helfen könnte, den Druck der auf ihrer Seele lastet, zu mindern. Jetzt prangt auf ihrem linken Unterarm eine Triskele mit den Initialen C – I – M,(Caesar Imperator Merlin), dem Rengmingbi-Symbol , das immer eine Chiffre für sie beide war, wenn sie Lust aufeinander hatten – und einem leicht abgewandelten „Fische“-Symbol als Zeichen für „Soixante-neuf“. Rundherum die Inschrift: „Amor in aeternum, quia fortis est ut mors.“
Sie überlegt, dass sie noch einige leichte Oberteile mit langen Ärmeln braucht, um den Verband an ihrem Unterarm zu verdecken... an der Kaufhauskasse klingelt ihr Handy.: Mario ruft an.
Sie hatte aus Versehen seine Nummer angewählt, aber sofort aufgelegt, als sie den Irrtum bemerkte. Daraufhin hat er zurückgerufen – anscheinend konnte er ihre Nummer nicht identifizieren .
Sie löst sich aus der Schlange an der Kasse und setzt sich an die Seite auf einen Stuhl. Das Gespräch mit Mario dauert eine halbe Stunde und er ist erstaunlich offen.
Sie hat sich getäuscht. Er habe in den vergangenen Monaten „Die Trauerarbeit für die Bekannten und Freunde meiner Eltern organisiert...“ Er habe eine regelrechte Hotline eingerichtet - „manche sind förmlich zusammengebrochen“...
Schade, dass ich nicht auch zu diesem Kreis gehört habe, denkt sie...
Ihr wäre vielleicht viel erspart geblieben. Aber wo hätte sie dort einen Platz finden können? Als verwaiste Geliebte? Schwer vorstellbar... Dass sie die heimliche Geliebte seines Vaters war, scheint ihr Gesprächspartner mit Fassung zu tragen... „Sie waren ja nur eins von vielen Mosaiksteinchen. Und es hat ja jeder seine Leiche im Keller... man wird ja in einer solchen Situation mit so vielen Geheimnissen konfrontiert – ungefiltert... da kann mich DAS nicht mehr erschüttern...“. Sie berichtet von der Session mit dem Medium. „Für mich schwer vorstellbar...“ meint ihr Gesprächspartner. Sein Vater habe während der gemeinsamen Wanderungen viel über seine esoterischen und spirituellen Neigungen gesprochen - „Bis es mir zu anstrengend wurde... dann hat er es nicht mehr getan...“
Sie erzählt ihm, wie sehr sie und der Merlin einander nahe gestanden hätten – und dass sie fast täglich miteinander telefoniert hätten. Ob sie ihn, Mario, auch gelegentlich anrufen dürfe. Das wird ihr gestattet. Aber sie merkt, dass er es mit der Angst bekommt: „Ich kann doch meinen Vater nicht ersetzen...“ „Nein – das können Sie nicht – und das sollen Sie auch nicht. Sie sind Sie -und er ist er...“ antwortet sie -und stellt noch einige Fragen.
Das große Familienbild das zu Lebzeiten seiner Eltern in der Diele hing, sei jetzt bei ihm , berichtet Mario – und die Bücher esoterischen und spirituellen Inhalts seien „an ein befreundetes Ehepaar, das damit was anfangen kann...“ gegangen. Insgesamt ein sehr versöhnlich gestimmtes Gespräch, das vieles in ihr zurecht rückt... sie beschließt, den Kontakt vorsichtig zu konsolidieren...

30. Juni 2017
Sie hat lange gezögert. Aber dann hat sie sich entschlossen, DOCH anzurufen. Bei dem „befreundeten Ehepaar“ kommt nach ihrer Einschätzung nur EINE Person

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Der Bilderzyklus von dem in diesen Aufzeichnungen die Rede ist, kann auf der Facebook-Seite "Eros und Thanatos - Liebe und Tod" eingesehen werden

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