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Er rettet einen kleinen Wolf vor dem Zorn der Viehzüchter und zieht ihn groß. Ganz ohne Häme, die Naturaufnahmen eines scheinbar grenzenlosen grün-hellen Grasmeeres und von dem Steppensee sind beglückend schön. Nicht nur in der CGI-Software von „Arlo und Spot“, sondern irgendwo ganz real muss es auf diesem Globus „unverfälschte“ Natur wohl tatsächlich geben. Weniger verständlich ist Annauds ständiges Bestreben, die Gefühlswelt dieses Wolfs als eine durch und durch menschliche erklären zu wollen. Wozu auch, wenn trotz all den Jahren der Freundschaft der junge Wolf nie kapiert, dass er, groß geworden, gemäß eherner Hollywoodlogik, nun die Existenz des Chinesen retten sollte? Tut der einfach nicht! Ganz unspektakulär fährt der Lehrer in die Heimat zurück, vorher lässt er den Wolf frei, damit er sich was tanzen kann.
Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach
„Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“. Die Taube ist schon tot und ausgestopft. Vielleicht deswegen sind die Einsichten über die Natur des Lebens, die in den folgenden, nicht zusammenhängenden Geschichten illustriert werden, nicht eben fröhlich. Vor diesem Film muss man auch ein wenig warnen dürfen. Der Trailer, der sich beschränkt auf Ausschnitte aus wenigen Episoden, erweckt absichtlich eine Erwartung, es mit einer Art kauziger Kaurismäki- bzw. Norwegen-Killer-Zeitlupen-Komödie zu tun zu kriegen. Wahr ist vielmehr, „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ ist fast niemals komisch, die Beschreibung „philosophisch grimmig“ haute da schon besser hin. Der Göteborger Roy Andersson (auch über siebzig) hat unter allen hier Gelisteten den eigentümlichsten, unerbittlich an einem farblosen Look festhaltenden, durchaus was aufs Spiel setzenden Film gemacht. Kunst, die noch eine ist. „Unverwechselbar“, „riskant“, „Kunst“, im Jahr 2015 traf das ja auf nahezu keinen Film zu. Aber mit manchen dieser pointenlosen Sketche tut Andersson einem auch geradezu böswillig weh, nicht einfach nur „makaber unterhaltsam“.
Wenn König Karl XII. (aus dem Barock) in einem tristen (heutigen!) Vorstadtlokal einkehrt, Mineralwasser bestellt, vor den Fenstern in einem endlosen Zug Männer, Pferde und Waffen vorbeikommen, überrascht und amüsiert es uns, wenn der junge König sich unverhohlen der erotischen Gunst eines jungen Kneipenbesuchers zu versichern anfängt. Wenn im zweiten Teil, als diese Episode wieder aufgenommen wird, derselbe Zug noch mal vorbei defiliert, jetzt nur noch aus Toten und Verstümmelten bestehend, fragt man sich schon auch, ob der halbe Aufwand an Material und vor allem Zuschauerlebenszeit nicht genügt hätte, die Lehre zu kapieren. Noch mal sehr speziell wird‘s zum Ende hin, wenn eine in teuerste Mode vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gekleidete Festgesellschaft vor eine Villa hinaus tritt und ungerührt zusieht, wie ein kleineres Völkchen von dunkelhäutigen Menschen, Frauen, Kinder, in einen gigantischen Kessel getrieben und eingesperrt wird. Dieser Kupferkessel ist mittig aufgehängt und beginnt sich um die eigene Achse zu drehen, wenn unter ihm Feuer entfacht wird. Als dann ein sphärisches Singen und Klingen anhebt, während im Innern die Leute gerade sterben, sind die Damen und Herrn ästhetisch extrem beglückt. Ein beklemmender Film. Ich war froh, dass draußen wieder Luft war.
Das brandneue Testament
„Das brandneue Testament“ des Belgiers Jaco van Dormael (von ihm gab’s einstens „Toto der Held“) ist ein sarkastisches Erlösungsmärchen, das man gleich ins Herz schließt. Das wird jetzt sicher ulkig. Leider wird es dann immer blasser, während im modernen Brüssel Jesus sich auf die Suche nach den zwölf Aposteln begibt. Am Ende bleibt nur die Rahmenhandlung als wirklich voll befriedigend in Erinnerung. Ein unglaublich heruntergekommener Gott, der sich kläglich an den sadistischen Streichen hochzieht, die er der Menschheit antut. In der eigenen Familie wird er verachtet, unterdrückt die trottelige Ehefrau wie ein Pascha, hat den Sohn (den ersten Jesus) aus dem Haus gegrault und sterben lassen. Jetzt büchst ihm auch die Tochter, ein Mädchen, aus. Sie rutscht durch eine Art Müllrutsche bis in die Trommel einer Waschmaschine in einem Brüsseler Waschsalon, Vater Gott als Verfolger gleich hinterher. Das Kind geht über Wasser, Vater Gott geht schmählich unter. Wegen unfreundlicher Äußerungen über Immigranten bringt Gott einen Priester dermaßen in Rage, dass er gewalttätig wird, ihn am Filmende von den Behörden nach Usbekistan abschieben lässt.
Das Drehbuch allerdings hat weniger die lästerliche Satire auf die Religiösen im Sinn, als vielmehr einen von den Saulus-Paulus-Lebensmitte-Umkehrfilmen. Wo einsame, enttäuschte Personen, in der Mitte ihres Lebens alles hinschmeißen und ganz was anderes probieren und jetzt endlich das Glück finden. Diese Leute sind die gesuchten 12 Apostel. Ein alt gewordener Büroangestellter pilgert, immer einem großen Vogelschwarm hinterdrein, als Einzelwanderer bis nach Lappland, wo prompt die Liebe in den Augen einer Samin wartet. Dazu gibt’s hymnische Musik wie in den Islandszenen bei Ben Stillers Utopie-Schwindelei „Walter Mitty“. Die vernachlässigte Ehefrau eines Superreichen findet zum ersten Mal in ihrem Leben sexuelle Raserei, als sie in den Armen eines Gorillas liegt. Catherine Deneuve ist das. Diesen Film mit dem Gorilla, gab’s den nicht früher mal? Wieder andere müssen eine gigantische Party unter den Touristen an Flanderns Touristik-Küsten losmachen und dann wird alles gut. Nein, nein, ohne Benoît Poelvoorde als schlurfiger, fieser Gott im Morgenmantel und ohne das Jesus-Schwesterlein taugt der Film dann doch nicht so viel.
Teil N
Tom Hardy - Schauspieler des Jahres
Bis zu „The Drop - Bargeld“ ist er mir kein Begriff gewesen. Dann dachte ich, irgendwo hast du ihn schon mal gesehen. Hat dieser Typ nicht eine eigene Magie in dieser Rolle des anfangs wie zurückgeblieben wirkenden Kriminellen, der das Unternehmen dann an sich reißt? Für den 37-jährigen Engländer bedeutete 2015 seinen Durchbruch ins US-Kino. In den unterschiedlichsten Rollen sah man ihn maskuline Professionelle, Kämpfer, Opfer oder Verführer liefern. Der Höhepunkt kam dann im folgenden Jahr, als er an der Seite von Leonardo Di Caprio in „The Revenant“ jenen bärtigen Südstaaten-Schweinehund gab, den Leo, der Rückkehrer, einen verschneiten Film hindurch erbarmungslos zu jagen hat. Tom Hardy, offenbar passten ihm die Fußstapfen eines Richard Burton oder Mel Gibson ziemlich gut.
Kind 44
In den achtziger Jahren hat es in der Sowjetunion einen Mörder von 53 Kindern und Jugendlichen, meistens Jungen, gegeben, Andrei Tschikatilo, die Bestie von Rostow. Ebenfalls in den achtziger Jahren gab es einen amerikanischen Moskau-Krimi, „Gorky Park“, in der Verfilmung mit Lee Marvin