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Theresa von Eltz und Esther Bernstorff machen Filmregie und Drehbuchschreiben. Es handelt sich bei ihnen um drei suizidale Patienten, die freiwillig in der Therapiegruppe sind, sowie einen zwangsverlegten Gewalttätigen, vor dem die andern drei erst ein wenig Angst kriegen, dann bringt er die erotischen Anziehungskräfte innerhalb der Jugendclique in Schwung. Da ist die hyperaktive Schlampe (Jella Haase aus „Fack Ju Göhte 2“ - ach ja, einen Thailandferien-Werbefilm hatten wie diesen Sommer auch), dann eine den Film durch unglaublich schlecht auf „Spuren“ hingeschminkte, dauerverschnupfte Hochnäsige, ein sehr dünner, extrem schüchterner und zudem slawischer Aussiedlerjunge (Jude oder Türke wollten sie dann doch nicht), der von seinen Mitschülern brutalst gemobbt wurde - und abschließend dann der hyperaggressive Schöne (Jannis Niewöhner), wie ein Kampfhund an seiner Kette zerrend. Von Rechts wegen müsste es ja der naive Neonazi sein, der jetzt die Chance bekommt, sich in eine Lehrerstochter zu verlieben. Aber all diesen Realgesellschaftsbezug wollten die beiden jungen Damen nicht mal. Die vier Opfer bleiben alle ohne genau erzählte Geschichte. Und sie entwickeln sich dann miteinander auch nicht weiter als bis zur Fete. Es reicht für den Zweck des Films voll und ganz, dass sie in ihrer jugendlichen Sensibilität und Liebessehnsucht nicht respektiert oder schwerst enttäuscht worden waren, eigentlich nur von Erwachsenen, eigentlich alle von ihren Eltern, ob nun Asihaushalt oder Blankenese. Sie brauchen einen sicheren Hafen, wo sie ihren eigenen Wert herausfinden und wo Ihresgleichen sind. Das alles hat ständig was von Schauspieler-Wochenend-Workshop, wo man sich so unheimlich gut fallen lassen kann. Weihnachten bedeutet, dass der König geboren wird, hier sind es mal vier Könige. Der Film erreicht seine - am dänischen Dogma-Kino orientierte - Seelenstriptease-Intensität vor allem mit ereignislosem Rumlaufen im klammen Winterwald und einem schlauen Wechsel zwischen störrischer Wortlosigkeit und lautester Hysterie. Formal ist das nicht von schlechten Eltern, inhaltlich die wehleidige, narzisstische Schmiererei. Generation Miss-Verstanden.
Teil L
Kunsthonig
Ewige Jugend
Ist es nicht schnurrigster „8 ½“-Fellini? Alternder (na ja, hier ist er nur alt) Künstlertyp begeht während des Verweilens in einem Heilbad Identitäts-, Schaffens- und Beziehungskrisen in schnurrigen Bildern. (Dieses Mal im deutschsprachigen Graubünden, nicht sehr weit entfernt von jenem Bahnhof der Rhätischen Bahn, von welchem Sebastian Zöllner in Wolfgang Beckers Künstlerfilm zur Villa des greisen Kaminski hinaufsteigt.) O du Italien, o du unsterblicher Federico Fellini! Der ist aber tot, Mastroianni auch, dafür spielen dieses Mal Michael Caine, Harvey Keitel und selbst die fast vergessene Jane Fonda mit. Und noch der österreichische Romanschreiber Robert Seethaler! Wer Akademiker ist und dennoch schwänzt, sollte sich was schämen. Obwohl, eigentlich, aber das merkt man nach einiger Dauer erst, geht das, als habe jemand, der die Schönheit der Piemont-Kirsche ins Bild gesetzt hatte, sich entschieden, kommender Fellini zu sein. Zu erzählen weiß er nichts, aber wunderbare Bilder, die kann er. Grandiose, ultratiefenscharfe, mit Kunstlicht herausgeformte Gebirgsnatur, dahinter oft schaurig unwürdige Musik, da der Protagonist ein Dirigent und Komponist sein und Britannien zu Ehren sein bedeutendstes halb-klassisches, halb-modernes Opus schreiben muss. Langeweile umhalst uns teilnahmsvoll. Ein überflüssiger Paul Dano, der jüngere Brian Wilson in „Love & Mercy“, ist hier am Ort gammelnder Hollywoodfilmstar. Einmal steigt Michael Caine durch Frühlingsblumen zu einer Bank am Waldrand auf, führt mit den Lauten der weidenden Kühe und derer Glocken ein anschwellendes Orchesterstück auf. Ding, dong, dung, das hat dann Charme.
Teil M
Die restliche Welt
Der letzte Wolf
Warum „Der mit dem Wolf tanzt“ (1990) zum Film wurde, von dem jedes Kind in Deutschland was gehört hatte, der mit sieben Oscars ausgezeichnet wurde, „Der letzte Wolf“ 2015 aber nicht mal so lange im Kino blieb, bis die (sonst leinwandabstinente) Klientel, für die Titel wie „Axel Milberg erzählt: Die Magie der Moore“ oder „Bavaria - Traumreise durch Bayern“ angefertigt werden, davon Kunde erhalten konnte? Zum Ersten wohl: Auch die großartigste Geschichte bannt nicht mehr so ganz, wenn sie das zweite Mal erzählt wird. Zum Anderen: Natürlich sieht ein junger Kevin Costner vertrauter aus als so ein unbekannter Chinesenstudent aus den sechziger Jahren! Und dann war es 1990 eben toll, nicht allein pro Natur, sondern deswegen auch gleich noch pro Indianer zu sein. Wer 2015 pro Natur war, verknackte die Kinder dazu, täglich mit dem Bus zur Schule zu fahren, verweigerte der Frau den kleinen Smart zu ihrem Nebenjob, buchte auch nicht ein einziges Städteshopping-Weekend mit Billigfliegern, verbot dem Gärtner den Laubbläser und ließ ihn stundenlang rechnen. Man kann heute Die Grünen wählen, ohne solche Kinkerlitzchen je zu erwägen. Man wählt schließlich dafür, dass andere die Natur nicht behindern, die bösen Weißen sozusagen.
In China ist der zu Grunde gelegte autobiografische Roman das nach den „Worten des Vorsitzenden“ Mao Zedong meist verkaufte Buch. Warum es einer Verfilmung bedurfte, ist ähnlich einsichtig wie bei „Vom Winde verweht“, „Doktor Schiwago“, „Die Blechtrommel“ oder „Feuchtgebiete“. Den Chinesen ist gelungen, ihr schönstes Tierbuch im Rahmen einer aufwändigen internationalen Koproduktion von einem berühmten Franzosen verfilmen zu lassen (wo war das Filmland Frankreich eigentlich sonst im Jahr 2015?), der sich einen Ruf als Archaik-Kitschier mit Sachen wie „Der Bär“, „Sieben Jahre in Tibet“, „Am Anfang war das Feuer“ und „Der Name der Rose“ verdient hatte. Ach, die Zeit verfliegt so rasch und dieser Jean-Jacques Annaud ist jetzt auch über siebzig, noch immer ein bildmächtiger Allnatur-Humanisierer. Mehr Jack London geht in diesen Jahren nicht mehr. Wenn der Mensch den Wölfen ihre Babys tötet, guckt aus der Ferne geschmerzt die Mutter hin und prägt sich ein, wer da dabei war. Im Winter hetzt sie ihr Rudel auf, die Pferde der Chinesen in Panik zu jagen und in einen flachen mongolischen Steppensee, wo sie augenblicks an den Hufen festfrieren und bald als eisige Statuen mit Zapfen vor dem Mund zum Frieden mahnen. Dazu höhnisches Lachen unter den Wölfen und gigantische europäische Musik.
Wenn man sich wundert, warum die Chinesen lieben, was bei uns nur floppte, ließe sich spekulieren: „Wie schlimm es mal war, damals, im Massenmord der Kulturrevolution, heute ist alles vergangen und jetzt wollen wir es gemeinsam mal ruhen lassen, Chinesen wie Mongolen, Maoisten wie Kapitalisten, Wölfe wie Menschen, uns vielmehr der Schönheit des Planeten widmen.“ Ein junger chinesischer Akademiker ist bei den gerade noch nomadischen Mongolen-Schafzüchtern als Lehrer untergekrochen.