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dem Kaminsims, zu beiden Seiten der kleinen Standuhr, standen zwei Bronzeleuchter mit dicken Wachskerzen, die durch die Länge der Zeit förmlich von Staub vergraut waren. Ich zündete eine davon an und sah in Gedanken versunken in die gelbe ruhige Flamme.
Welch ein keckes, leichtblütiges Ding dieses Mutchen mit ihren achtzehn Jahren sein mußte! Ich selbst war anders gewesen zu dieser Zeit, trotzdem sie eben versichert hatte, ich schaute grade so aus, »als verstände ich das«.
Und wer weiß! vielleicht hatte es auch nur der Zufall so gefügt. Der Zufall, der mich in eine rechte Schwärmerei voll Traumromantik führte, weil er mich von rascher Erfüllung der Liebeswünsche fernhielt.
Mutchen aber war nicht in lebensfremden Träumen groß geworden, sie war ein rechtes Kind ihrer Zeit, das das Leben allzu früh so gesehen hatte, wie es ist, und sich nun mit heitern, listigen Augen einen Ausweg erspähte aus den sie beengenden strengen Mädchensitten. Heute liebte sie Doktor Gerold, wie sie behauptete; aber vielleicht hatte sie sich schon in der Tanzklasse heimlich mit halbwüchsigen Gymnasiasten angestoßen und sich auf die künftigen Liebesabenteuer gefreut wie auf ihr allerschönstes Jugendvergnügen.
Man konnte das bedauern. Man konnte in solchem Fall sie selbst bedauern, die ein kostbares Kapital unachtsam in kleiner Münze verstreute. Aber warum bedauerte man dann nicht wenigstens auch den rasenden Gefühlsverbrauch, die erschlaffende Gefühlsausschweifung in den jugendlich romantischen Marlittiaden von uns andern? Verliefen die etwa harmloser als ein Leichtsinn wie der Mutchens, nur weil man durch sie am Leibe keinen Schaden nimmt, und weil ihre feinern und intimern Korruptionen des seelischen Lebens nach außen unmerkbarer bleiben? In Wahrheit ist es vielleicht minder gefahrvoll, sich bei oberflächlichen Genüssen zu zerstreuen, als hinabzusinken in allerlei schwüle, dunkle Tiefen alter Gefühlselemente, gegen deren Ueberreizung die gesunden warmen Reize des Lebens nicht aufkommen —.
Ich hatte mich auf das Fußende der Ottomane gesetzt und horchte unentschlossen nach oben, von wo das Gesumme durcheinanderredender Stimmen zu mir drang, und wo jetzt gar ein lustiger Walzer auf dem Klavier gespielt wurde.
Da trat jemand von draußen in den Hausflur, man hörte, wie er sich den lockern Schnee von den Stiefeln stampfte, ein Männerschritt näherte sich, — dann wurde die Thür zur Studierstube geöffnet, und Benno stand auf der Schwelle.
Ich wandte den Kopf nach ihm und sagte entschuldigend:
»Ich meinte, du kämst erst spät heim. Verzeih, daß ich hier sitze. Mama glaubt mich oben in der Gesellschaft. Ich soll auch hin. Zauderte aber hier, und blieb. Es war so schön still hier.«
Er antwortete nicht. Im Thürrahmen stand er still und schaute herüber zu mir. Seine Augen hingen an dem elfenbeinfarbenen Wollkleide, das ich angezogen hatte, und langsam stieg sein Blick daran herauf bis zu meinem Gesicht. Das seine erschien mir blaß und seltsam.
Von seinen Lippen kam ein Laut, — kein Wort, nur ein schwacher, kurzer Laut, — und eh ich es noch hindern, eh ich noch aufstehen konnte, lag er vor mir auf dem Teppich und umfaßte mich mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen, und bedeckte meine Hände, meinen Hals, meinen Schoß mit Küssen.
Er küßte mich, ohne mich loszulassen, ohne in seinem Ungestüm nachzulassen, ohne mir Atem zu lassen. Er küßte mit einer Gewaltsamkeit und Benommenheit, womit er mich fast brutalisierte, während er mich liebkoste. Er küßte so, wie jemand trinkt, der, an der Stillung seines Durstes verzweifelnd, schon verschmachtend am Boden gelegen hat. Er küßte mit der Sehnsucht, Inbrunst und Dankbarkeit jemandes, der sich mit unaussprechlicher Wonne vom Tode freiküßt.
Ich regte mich nicht und wehrte ihm nicht. Ich gab leise seinen Bewegungen nach, ohne sie zu erwidern. Ich fühlte mit staunendem Mitleid diesen Ausbruch einer lange, lange und mit entsagender Kraft zurückgedämmten Leidenschaft, die sich in diesem Augenblick blindlings sättigte. Und während ich seinen unsinnigen Küssen nachgab, regte sich in mir etwas Wunderliches, ganz Zartes und beinahe Mütterliches, — die Hingebung einer Mutter, die einem weinenden Kinde lächelnd ihre nahrungschwellende Brust öffnet.
So ruhte ich, fest von seinen Armen umschlossen, die Augen weit offen zur Decke emporgerichtet, und dabei ging es mir still und beinah ehrfürchtig durch den Sinn, — wie keusch wohl das Leben dieses Mannes hingegangen sei —.
Benno ließ mich endlich frei, mit einem ächzenden Laut, als ob er sich eine Wunde zufügte. Zugleich sprang er zitternd vom Boden auf und sagte mit einem Ausdruck leidenschaftlicher Verzückung auf seinem Gesicht:
»Ich danke dir! Du mein einziger, geliebtester aller Menschen, ich danke dir! Ich wäre erstickt und zerbrochen, wenn du mich zurückgestoßen hättest!«
Es fiel ihm nicht ein, nicht einen einzigen Augenblick lang fiel es ihm ein, daß ich vielleicht seinen Rausch nicht geteilt haben könnte. Um ins Mitempfinden des andern einzugehn, dazu gehört gewiß Liebe, aber bei einem gewissen Grad der Liebesleidenschaft schlägt sie zurück in so besinnungslosen Egoismus, daß sich daraus keine Fühlfäden mehr in die äußere Welt erstrecken, sei es auch die Gefühlswelt des geliebten Menschen, und daß ein störender Mißton einfach dadurch unmöglich gemacht wird, daß man ihn eben nicht aufnimmt und nicht vernimmt. Liebesleidenschaft ist wie die letzte und äußerste Einsamkeit.
So befangen Benno noch heute morgen geschwankt und gezweifelt hatte, so siegessicher fühlte er sich jetzt. Alle ängstliche Ueberlegung, alle Mutlosigkeit war von ihm genommen. Ich richtete mich langsam auf, ohne die Augen von ihm zu wenden.
Sonderbarerweise beschäftigte mich dabei eine ganz gleichgültige Kleinigkeit. Benno hatte, während er auf den Knieen lag und mich küßte, seine Brille verloren. Sie lag auf dem Teppich neben der Ottomane, und die Gläser, die sonst seinen Blick verdeckten, glänzten im Kerzenlicht.
Und da schauten mir nun seine Augen brillenlos entgegen, so wie sie in Wirklichkeit waren, — blau und treuherzig, mit dem etwas unsichern, etwas starren Blick derer, die sich immer scharfer Gläser bedienen — — .
Benno machte eine gewaltige Willensanstrengung, um sich zu fassen und zu beruhigen, trat zurück und sagte:
»Verzeih mir. Ich wollte dir Zeit lassen, — ich hätte es vielleicht sollen, aber ich konnte nicht länger, Adine. Sieh, den ganzen Tag, den ganzen schrecklichen Tag trug ich eine sinnlose, würgende Angst mit mir herum. Eine Angst, weil du heute früh etwas gesagt hattest von ›zu spät‹, oder — oder ›verscherzt‹hast du gesagt, — etwas Aehnliches; — siehst