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bemerkte Jonas nach einer Pause, »dann wird mir's immer vor Augen stehn, das Wunderbare, daß es mit Mama besser geworden ist. Ich denke mir: Arzt sein, und ein einziger solcher Fall, – das muß für alle Lebenszeit einen glücklichen Menschen machen.«
»Du bist ein guter Kerl, Jonas. – Ich hätte übrigens nicht gedacht, daß du speziell ›Medizin‹ wählen würdest. Ich dachte Naturwissenschaften.«
»Ja, ich selbst auch, – früher. Am liebsten Zoologie. Aber es ist eine so ungewisse Zukunft damit. Ein Arzt findet über all sein Brot.«
»Das ist richtig. Aber das allein Ausschlaggebende dürft' es nicht sein. Es käm' immer noch auf die Stärke der besondern Neigung und Befähigung an. Wenigstens für dich. Das andre wär' dann meine Sache.«
»Ich möchte aber so früh, als es geht, unabhängig werden, Papa. Selbständig.«
»Ist es dir so unangenehm, dich von mir abhängig zu wissen, mein Junge? Es ist nur dein gutes Recht. Noch lange. Ich will nicht, daß dir deine Studien durch irgend etwas verkürzt oder eingeschränkt werden.«
Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Jeder blickte, in seine eigenen Gedanken vertieft, zu einem andern Fenster hinaus.
Zu Hause, über dem Garten, dunkelte es schon. Aus dem Wohnzimmer blinkte Licht. Der späte Mittag, der jetzt in den Abend fiel, wartete auf sie.
Erik legte beim Eintreten eine Hand voll blaßblauer Fliederzweige auf den Tisch. Er hatte sie in einer Hülle von Seidenpapier mitgebracht.
»Aber Erik!« sagte Klare-Bel vorwurfsvoll, während sie doch vor Freude errötete, »etwas so Kostbares und Überflüssiges! Im russischen April!«
»Überflüssig?« Er ordnete die langen Stiele geschickt in einem geschliffnen Kelchglas. »Der Frühling ist doch nicht überflüssig. Und ich meinte: in einem Landhause müßt' er wenigstens drinnen sein, wenn er schon nicht draußen ist.«
Ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen, sie schlug sie nieder, damit er's nicht sähe. Der Frühling war ja drinnen eingekehrt, ihr Frühling, worauf sie gewartet hatte, wie auf eine Lebensneuerung grade für Erik. Aber dieser Frühling war blumenlos und frostig geblieben.
Nein, das war ungerecht. Ungerecht gegen ihn, dem sie ihre Genesung dankte: abbittend blickte sie Erik verstohlen an. Aber das mußte sie ja sehen: er ertrug kaum die Trennung, – die Trennung von Ruth. Solange ihn Bel glücklich gesehen hatte, war sie arglos und sorglos geblieben. Jetzt aber lag es auf ihr bei Tag und bei Nacht.
»Hast du Ruths gestrigen Brief schon beantwortet?« fragte sie nach einer Pause.
»Ja. Aber noch nicht ganz,« erwiderte er.
Sie zog den Flieder zu sich heran und vergrub ihr Gesicht in den duftenden Dolden.
»Da war doch, – ist der junge Russe noch immer da, den sie so gern haben?«
»Jurii? Ja. In den jetzt angehenden Ferien sollte er sogar, glaub ich, eine kurze Zeit bei ihnen wohnen – draußen am Schloßberg. Sie wollten allerlei zusammen unternehmen. Römer hält viel von ihm.«
Eine kleine Pause entstand.
»Wie alt ist er eigentlich, Erik?«
»Ungefähr zweiundzwanzig, glaub ich.« »Und gänzlich unabhängig, nicht wahr? Es handelt sich für ihn nicht um ein Brotstudium?«
»Nein.«
Erik blickte auf, ein flüchtiges Lächeln um den Mund. Auf den jungen Russen eifersüchtig, – nein, das war er unter keinen Umständen.
»Eine echt weibliche Kombination, Bel. Du dachtest schon an Brautkranz und Schleier, nicht wahr? Aber dafür, daß Ruth rasch mit ihm vertraut geworden ist, liegt ein andrer Grund vor: er ist ihr nicht fremd. Er kennt ihren Onkel hier. Hat früher einmal mit seinen Eltern dort verkehrt, – mit ihr gespielt, als sie acht und er dreizehn Jahr alt war.«
Sie lehnte den Kopf zurück.
»Es ist nichts,« dachte sie, »es kann nicht sein. Sonst müßte – müßte er eifersüchtig sein. Trotz seines starken Selbstvertrauens. Jugend sucht Jugend.«
Nach einiger Zeit sagte sie bittend: »Erik! Du mußt nicht böse sein. Ich habe einen so großen Wunsch.«
»Einen so schlimmen, Bel? Nun, her aus damit.«
»Ich wünsche so sehnlich, – ich möchte so sehr gern, nur ein einziges Mal – lesen, was du an Ruth schreibst.«
Er antwortete nicht. Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Gleich darauf kehrte er zurück, den fast beendeten Brief in der Hand.
»Du kannst es jedesmal lesen, Bel, wenn du willst.«
Ihre Augen strahlten ihn so dankbar und beglückt an, daß er den Blick nicht aushielt. Er sah hinweg.
Es war ihm eine Pein, sie dasitzen zu sehen, – sie lesen zu sehen. Am liebsten wär' er hinaus gegangen.
Er trat aus Fenster und schaute in die Dunkelheit.
Aber das Fensterglas höhnte ihn. Was er wiedergab, war noch einmal das Zimmer mit der Lampe und den zarten Fliederzweigen auf dem Tisch und der lesenden Frau im Lehnstuhl.
Klare-Bel ließ den Brief sinken. Sie sah betroffen aus.
»Wie seltsam, Erik,« sagte sie, »– ich kann mir gar nicht vorstellen, daß du so an Ruth schreibst.«
»Ich glaube ihr nicht anders zu schreiben, als ich zu ihr gesprochen habe,« entgegnete er.
»Es mag ja sein. Aber dann kam wohl noch allerlei hinzu, was nur im Mündlichen liegt. Dein ganzes Wesen kam hinzu. Du bist ja so jung und frisch im Wesen, Erik.«
»Nun – und?«
Er wandte sich um. Gewiß fand Ruth seine Briefe ebenso »entsetzlich nüchtern«, wie er die ihren. Nur aus einem andern Grunde: sie konnte nicht ihr Inneres aussprechen, – und er durfte nicht.
»Ja, – nun, – ich weiß nicht, wie ich's beschreiben soll, Erik. Aber in dem Brief da bist du wie ein ehrwürdiger alter Mann mit langem weißem Bart und Haar, – ungefähr so, wie sich die Kinder den lieben Gott vorstellen.«
Es durch zuckte ihn. Er mußte an Ruths Wort denken: »Wie Gott.«
Eine Fülle widerstreitender Empfindungen wühlte es in ihm auf. Was für ihn wie für Ruth diesen Briefwechsel nüchtern machte, – im lebhaftesten Plauderton noch kalt und stumm, – das mochten wohl zwei ganz entgegengesetzte Gefühle beim Lesen der Briefe sein.
Für ihn war's ein Abzug am Vollen, Menschlichen ihrer Persönlichkeit, ihres innersten Wesens, das in Worten nur seine Oberfläche zu zeigen vermochte. Für sie war's vielleicht ein Zusatz zu seiner menschlichen Persönlichkeit, eine Verklärung dieser: er hatte ihr ja auch mündlich sein innerstes Wesen verschweigen müssen, und grade das idealisierte sie sich nun vielleicht aus seinen geschriebenen Worten, – »ungefähr so, wie sich die Kinder den lieben Gott vorstellen.«
Daher war ihm auch nie von selbst das Bedenken gekommen, sie könne an seinen Briefen ebensoviel auszusetzen