Ruth - Page 60

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schlug das Buch auf und reichte es ihr. Das Lesezeichen fiel dabei heraus.

»Höre nur, – Erik, – nur einige Verse, magst du? Auch du mußt es schön finden. Es heißt ›Peinzensmoede‹. Es sollte wohl heißen: ›Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben‹.«

Und sie las mit ihrer sanften Stimme:

Wo sind die Priester,
Die dich erklärten?
In Rätseln wandelt
Der Mensch auf Erden.
Geheimnis – das Leben,
Geheimnis – der Tod,
Die Schöpfung, sie predigt
Keinen liebreichen Gott.
Natur nur umgibt dich,
Die nicht auf dich hört,
Gleich viel, ob sie wohl tut,
Oder ob sie zerstört.

Und doch, – nisten Zweifel
Mir auch in der Brust, –
An dich, meinen Vater,
Glaub' ich unbewußt.
Nicht weil deine Schöpfung
Dein Lieben enthüllt, –
Nein! nein! nur trotz allem,
Dem Zweifel entquillt!
Trotz jeglichem Rätsel,
Trotz jeglicher Not,
Trotz Angst und Verderben,
Trotz Schmerzen und Tod!

Ich schmachte, vom Schicksal
Zu Tode getroffen,
Meine Hoffnung ist Wehmut,
Meine Wehmut ist Hoffen.
Ich will's – will es glauben,
Daß ich deine Hand
Im Leben wohl spürte,
Nur sie nicht erkannt; –
Will's glauben, was Kirche
Und Priester mich lehrten:
Daß niemand umsonst dich
Gesucht hat auf Erden. [Fußnote]

Sie saß da und las, den Kopf mit dem weißen Nachthäubchen andächtig gesenkt, die Hände auf der Bettdecke gefaltet. Die Röte der Befangenheit, der verlegene Ausdruck wichen langsam von ihrem Gesicht, rührend und vertrauensvoll sah sie aus, wie ein Kind, das seiner Mutter ein Gebet nachspricht.

Und so nackt legte sie auch jetzt noch ihre Seele, in all ihrer Hilflosigkeit und zagenden Hoffnung, vor ihn hin – ohne jeden falschen Stolz. Sie kannte es nicht anders.

Erik hielt noch immer das Lesezeichen in der Hand und betrachtete es geistesabwesend. Ein recht unpassendes hatte sich da ins Buch hineinverirrt: ein nackter Amor mit einem großen Rosenbukett.

Während er aber stumm darauf hinschaute, sprach er in Gedanken mit Klare-Bel, unterbrach sie im Lesen, nahm ihr das Buch aus der Hand. Er war ganz eingenommen von diesem wortlosen Zwiegespräch:

»Dieser Titel gehört sicher nicht über deinen Glauben und deine Zweifel, Bel; ›Peinzensmoede‹ bedeutet ja: des Sinnens, des Grübelns müde. Wann hättest du das gekannt? Ein vom Zufall der Erziehung dir lässig übergeworfenes Kleid, – ein durch einen Zufall deiner Ehe lässig von dir abgeglittenes Kleid: das war in deinem Leben der Glaube.«

Und in Gedanken hörte er Klare-Bel: »Woran soll ich denn aber noch glauben, Erik? An dich? Doch nicht an dich? Woher einen Halt nehmen? Du warst mein Halt! Ach, der hält nicht! Er biegt sich unter meiner Hand hinweg und läßt mich stürzen. Soll ich mir selbst ein Leid antun? Dich ermorden? Sie vergiften? Ich bin keiner von den Menschen, über denen die Leidenschaften vernichtend zusammenschlagen. Bin ich dadurch nicht nur hilfloser? Meine tiefste Verzweiflung heißt Hilflosigkeit, – das Tasten nach einer Stütze: mein letzter klarer Gedanke. Warum verwehrst du es mir?«

»Weil ich diese Stütze hasse, – diesen Halt, der mich ersetzen soll. Nein, weil ich mich dessen schäme, – daß er mich ersetzen muß. Weil ich mit dir kein Mitleid mehr habe, – nur noch Zorn und Haß und Scham vor mir selbst.«– – – – – –

Klare-Bel schaute von ihrem Buch auf, unsicher gemacht durch sein Schweigen.

»Ist es nun nicht schön, Erik?« fragte sie leise, bei nahe bittend, »– mich macht es glücklich.«

»Dann ist es schön, Bel!« sagte er sanft. –

Aber seine Stimmung war nicht sanft. Den ganzen Abend schlug er sich mit einer ihm fremden Pein herum. Schon am Vormittag, – als er seine Frau nicht sofort über ihr Mißverständnis aufklärte, sondern sich edler nehmen ließ, als er war, – und jetzt wieder, wo seine Lippen anders redeten als seine beschämten, zornigen Gedanken, – hatte er gegen seine innerste Natur gehandelt, sich passiv verhalten, die Dinge gehn lassen. Nicht aus einer Weichlichkeit des Mitleids, – aus gerechter Überzeugung: ob es ihm sympathisch oder widerwärtig war, durfte nicht in Betracht kommen gegenüber dem, was Klare-Bel durch ihn erleiden mußte.

Er hatte sich unausweichlich in die Lage gebracht, gegen seine eigenste Natur handeln zu müssen.

*

Den nächsten Tag bedurfte Erik einer gewaltsamen Willensanstrengung, um seine Gedanken von allem los zu reißen, was ihn quälte, und auf seine Arbeit zu richten. Bald sah er Bel als Betschwester vor sich, bald Ruth als Braut; Hohn und Erbitterung erfüllten ihn. In bei den Fällen war er der entthronte König.

»Einen neuen Gott die eine, – einen neuen Mann die andre, – es ist fast dasselbe!« dachte er und erschrak selbst vor der Häßlichkeit seiner Gedanken.

In einer Pause zwischen seinen Schulstunden, während der er in der Stadtwohnung vorsprach, zog er Frau Römers Brief aus seinem Taschenbuch. Er hatte ihn nicht einmal ganz gelesen, – nur durchflogen, – und jetzt kam ihm das Gefühl: es müsse wohl tun, diese Frau reden zu hören, bei ihr Ruhe zu finden vor all dem Häßlichen, was in einem Menschen aufgewühlt werden kann.

Und er las weiter:

»Es ist ja nicht notwendig, daß sich Ruth schon so jung bindet. Vielleicht wird sie sich erst viel später verheiraten, – vielleicht nie. Nun sehen Sie, dies wäre nicht wünschenswert. Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken. Ich spreche als glückliche Frau naturgemäß für die Ehe. Aber ich habe gut reden: ohne meinen Mann wär' ich wohl ein nichtsnutziges Ding geblieben, – mit etwas Interesse für Tand und einer großen Leere im Herzen. Ich glaube, Sie legen einen Hauptwert auf Ruths geistige Entwicklung. Ich auch. Aber dazu verhält sich ein frühes glückliches Liebesleben nicht als Gegensatz, sondern als die einzige gesunde, natürliche Grundlage auch für das Geistesstreben im Weibe. Nicht nur damit sie die Gehilfin des Mannes sei. Häufig langt es ja gar nicht zu mehr. Wo es aber langt, – desto besser. Von meinem Mann glaub ich bestimmt, daß er mich im Ergreifen eines jeden Berufes unterstützt hätte, zu dem eine entsprechend große Befähigung vorhanden gewesen wäre. Nicht aus reiner Selbstlosigkeit natürlich. Liebe ist nicht selbstlos. Wohl aber um den ganzen frischen Duft, die ganze Fülle und Freude um sich zu haben, die nur derjenige Mensch auf seine Umgebung ausstrahlt, der voll erblüht. Und daß zwei Blüten beieinander stehn wollen: das bedeutet ja wohl ›Ehe‹ –.«

Erik sprang auf und warf den Brief auf den Tisch.

Etwas ganz andres, als er gesucht, hatte er darin gefunden, – etwas ganz Unerwartetes: einen unbewußten Vorwurf.

Seine Ehe

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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