Ruth - Page 58

Bild von Lou Andreas-Salomé
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darf ihm zu knapp zugemessen werden.«

»Wie gut er ist!« dachte Klare-Bel. »Ja, in solchen Dingen ist er immer unendlich gut gewesen. Würde sich plagen für den Jungen, damit der lernen kann, zu genießen.«

Mehrere Minuten vergingen in Schweigen. Eriks Gedanken liefen voraus, dem Herbst entgegen, wo Jonas nach Heidelberg abgehn würde. Aller spätestens dann mußte er Ruth wiedersehen, sie sprechen. Vielleicht aber schon früher. Wenn Klare-Bel so ins Bad reiste, daß er sie am Beginn der Sommerferien aus Deutschland abholen konnte.

»Erik!« sagte eine Stimme neben ihm.

Er sah zerstreut auf. Seine Frau stand am Schreibtisch – ohne ihre stützenden bei den Stöcke. Sie hatte sich ohne Hilfe erhoben und war durch das ganze Zimmer zu ihm hingegangen – allein.

Sie hatte es heimlich geübt, mehrere Tage.

Erik vermochte nicht gleich aus seinen Gedanken herauszukommen. Er blickte sie nur fragend an, ohne zu beachten, was ihn überraschen sollte.

Er bemerkte es nicht.

Auf Klare-Bels Lippen erstarb ein Lächeln.

»Ich wollte dir nur zeigen, was ich kann,« sagte sie, mit einer gewaltsamen Anstrengung, es unbefangen zu sagen.

Aber es mißlang. Sie erblaßte. Und plötzlich schwankte sie und glitt dem erschrocken Aufspringenden in den Arm.

Er führte sie langsam zu ihrem Lehnstuhl, besorgt, über sie gebeugt. Jetzt war er ganz bei ihr.

»Ist dir besser?« fragte er herzlich und zog sich einen der niedrigen Polstersessel vom Kamin heran, »die Selbständigkeit bekommt dir schlecht, meine arme Bel.«

Sie sah den Scherzenden mit einem langen, stillen Blick an.

»Ich muß sie doch lernen, Erik!« entgegnete sie doppelsinnig.

Sie lehnte den Kopf müde zurück und schloß die Augen. Und so, mit geschloßnen Augen, während er ihre Hand festhielt und leise streichelte, sagte sie: »Siehst du, – ach Erik, es war ja gewiß recht kindisch. Aber siehst du, – hierauf hab' ich mich ja schon so lange gefreut. Auf deine Freude, – wenn ich einmal so zu dir käme – ohne Stütze, auf eignen Füßen. Es war so kindisch. Aber nun ist mir aller Mut abhanden gekommen, dich zu fragen, Erik.«

»Wonach wolltest du mich fragen, Bel?« Er sprach mit gepreßter Stimme, gedämpft, wie immer, wenn er eine Erregung niederhielt.

»Ja, Erik, ich dachte: wenn du dich nun so freutest und mich in deine Arme schlössest, – nicht wie jetzt, weil ich fiel, sondern weil ich stand, aufrecht neben dir stand, – dann wollt ich dich fragen, – ganz leise wollt ich dich fragen, – ach Erik! ich kann's nicht mehr!«

Er faßte ihre bei den Hände in die seinen und blickte durchdringend, mit gespanntester Aufmerksamkeit in das erblaßte Gesicht mit den fest geschloßnen Augen. Sein Herz schlug hart gegen die Brust.

»Ich will dir's sagen, Bel!« erwiderte er fest, ohne den Blick von ihr zu lassen. »Wenn es dich gequält hat, dann muß es sein. Hast du den Mut, es zu hören? Willst du's?«

Sie schlug die Augen auf, – hilflos, tränengeblendet, – hilflos wie ein gestelltes Wild vor dem Schuß.

»Erik! stieß sie flüsternd her aus, und das Entsetzen vor seiner Antwort vergrößerte ihre Augen, »–Erik, liebst du sie?«

Da beugte er den Kopf tief nieder auf ihre Hände.

»Ja, Bel,« sagte er laut.

In demselben Augenblick durchflutete ein so breiter Sonnenstrom das ganze Zimmer, daß sich Klare-Bels Lider unwillkürlich davor schlossen in einem abergläubischen Erschrecken, wie wenn der Himmel selbst Zeugnis ablegen wollte für Eriks Liebe. Blau lachte es herab, und wie ein blitzendes Goldnetz von Tauperlen blinkten die rasch zerronnenen Schneefederchen über dem Garten. So warm spielten die hellen Sonnenstrahlen über den Fliederstrauß am Fenster hin, als sei er draußen vom Strauch geschnitten.

»Dunkel,« bat Klare-Bel leise, »– ich möchte auf mein Bett, – mach's dunkel.«

Er hob sie aus dem Stuhl und legte sie in ihrem aufstoßenden kleinen Gemach auf ihr Bett, hinter dem er die Fenstervorhänge aus den Klammern löste und zuzog.

Sie suchte nach seiner Hand.

»Die Briefe, Erik, – wie du ihr geschrieben hast, – war es lauter Verstellung? Oder hast du ihr, – hast du nicht auch anders geschrieben? Niemals?«

»Ich habe ihr auch anders geschrieben, Bel. Ganz anders. Jedes einzige Mal, wo ein solcher Brief an sie abging. Aber es war nur für mich allein. Sie hat's nie gelesen.«

»Du hast es nicht abgeschickt? – Hast du diese Briefe noch, Erik?«

»Nein. Ich habe sie jedesmal, sobald sie geschrieben waren, vernichtet.«

»Wozu hast du's dann nur getan, Erik?«

»Es half mir.«

Fast hätte er hinzugefügt: »Ich liebe sie ja, Bel! Ich liebe sie! Ich mußte zu ihr sprechen.«

Nach einer Weile ließ Klare-Bel seine Hand los und sagte leise: »Und ich hatte keine Ahnung, – nein, keine Ahnung hatt' ich, daß du sie um des willen von dir gabst. Nun erst weiß ich's.«

Er richtete sich betroffen auf. Mißverstand sie ihn jetzt nicht? Meinte sie nicht, er habe Ruth von sich gegeben um ihretwillen? um Herr zu werden seiner Liebe?

Mußte er ihr die letzte, die tödlichste Kränkung zufügen: »Nicht an dich hab' ich dabei gedacht.«

Ja, einmal mußte auch das sein. Aber mußte es heute sein? Alles heute? Litt sie nicht genug, – maßlos?

Er vermochte es nicht.

Da Klare-Bel nicht mehr zu ihm sprach, trat er von ihrem Bett zurück an die offne Tür des Wohnzimmers.

Gräßlich war es, einen Wehrlosen niederzuschlagen mit der Faust. Das Mitleid überfiel ihn mit nie gekannter mitleidsloser Macht, – mit einem nie gekannten wehen, elenden Gefühl umkrallte es ihn.

Das Kaminfeuer knatterte hoch auf unter kurzen Windstößen; der Himmel hatte sich längst wieder verfinstert. Von neuem stäubte ein feiner Schneeschauer um das Fenster, – dasselbe Aprilspiel wie zuvor.

Erik warf gedankenlos eine Hand voll Tannenzapfen in die rote Glut, und ein schwacher Duft, den er liebte wie keinen andern, – ein Duft nach Wald und Weihnachten verbreitete sich in der Stube. Unwillkürlich dachte man sich den kahlen, kalten Garten im Winterfrost und einen geputzten Christbaum in der Zimmerecke.

Weihnachten, – – – auch in diesem Winter hatten sie den Baum geschmückt und sich um ihn geschart, aber zum ersten Male hatten sie sich wie drei arme Erwachsne gefühlte, die am Fest der Kinder leer ausgehn. Erik, der zu beschenken wußte wie nur ein Knecht Ruprecht, und sich zu freuen wie nur ein Kind, war karg, – war wortkarg geblieben.

Es kam ihm selbst sonderbar vor, daß sich sein Mitleid an lauter solche

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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