Ruth - Page 57

Bild von Lou Andreas-Salomé
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haben, wie er an den ihren. Denn er hatte gefühlt: in seinen Briefen ergriff sie seine Hand und ging daran vertrauensvoll ihren Weg. Gehorsam, – froh. Denn sie litt doch nicht? Nein, das tat sie gewiß nicht.

Man hatte sie dort mit einem Leben umgeben, das sie unausgesetzt anregen, bereichern, entwickeln mußte, – sie beglücken und sie erfüllen. Und mit ihrer unbegrenzten Empfänglichkeit stand sie mitten in diesem Leben, – wie mit weit ausgebreiteten Armen.

Nein, sie – sie litt nicht.

Auch Klare-Bel war verstummt. Wieder hing jeder seinen eigenen Gedanken nach, und wieder wurde es ein schweigsames Abendessen. Wie sie da zu dreien beieinander saßen, eng zusammen, in herzlicher Neigung verbunden, blieben sie doch einander so weltenfern entrückt, daß keiner von ihnen teilhatte an der stummen Welt des andern.

Als Erik nach dem Essen sein Zimmer nicht wieder verließ, setzte sich Jonas, ohne Schularbeiten, zur Mutter.

»Wenn Papa nicht da ist, muß ich ihn ersetzen,« versicherte er, »kann ich dir nicht schon bald fast dasselbe sein wie Papa? Einen guten Kopf größer als du bin ich doch schon, meine kleine Mama.«

Sie sah ihn mit einem tiefen, stillen Blick an, den er nicht verstand.

Dann streckte sie ihm über den Tisch ihre Hand hin.

»Mein lieber Junge. Ja, mir kannst du bald – viel sein. Wirst du's auch nicht vergessen, später, über all dem Studieren? Du mußt mir viel, viel Freude machen, Jonas.«

»Ich werde dir ganz ungeheuer viel Freude machen, Mama,« erklärte er treuherzig, »das werd ich ganz bestimmt. Denn ich werde etwas ganz Ausgezeichnetes werden. Das muß ich.«

»Freust du dich sehr auf das ungebundene neue Leben draußen?«

»Auf draußen – ja. Aber das mit dem ungebundenen Leben find ich gar nicht so schön. Ich find es viel schöner so, wie es Papa gehabt hat.«

»Wie denn, mein Kind?«

»Nun, doch so ganz gebunden, Mama. Mit dir zusammen. Das kann ich mir nämlich so wunderschön ausmalen. Fast als ob –. Eine Studentenstube, – ganz klein braucht sie ja nur für den Anfang zu sein, und an den Wänden Bücher, und auf dem Tisch eine Kochmaschine zum Selbstkochen. In der Ecke ein schönes Skelett, und am Fenster viele Blumen. Da sitzt die Frau mit dem Nähzeug. Und bei den Büchern, da sitz' ich, – ich meine: sitzt Papa.«

»Ganz so war es wohl nicht. Nicht so eng. Für Blumen und Kochmaschinen und Nähzeug schwärmte Papa nicht sehr. Und wenn er bei den Büchern war, dann mußt' er in seinem Zimmer allein sein. Da warst nur du bei mir. In einer kleinen Wiege.«

»Eine kleine Wiege?«

Jonas wurde ziemlich rot. An dies Stück der Zimmereinrichtung hatte er noch gar nicht gedacht. Er sagte etwas befangen: »Nun ja. Aber wenn du auch nur nebenan gesessen hast, so war es doch das, was ihn fleißig machte. Und eben das denk ich mir so herrlich beim Studieren, wenn man's für jemand tut, den man so über alles lieb hat.«

»Das sage du Papa lieber nicht. Das würd' ihm vielleicht mißfallen. So hat er's mit seinen Studien und Plänen wohl nie gemeint. Er war so ganz anders, als du bist, Jonas. Aber unendlich gut und klug war er. Und als er anfangen mußte, sich ums Brot zu plagen, und es mich grämte, da lachte er mich so herzlich aus und sagte: ›Laß gut sein, Bel, ich hab' ein Mittel, ein Zaubermittel, um frisch zu bleiben, – mag es noch so viel Plage geben, – frisch für meine Ziele: das Mittel bist du, Bel.‹ Ja, so sagte er.«

Jonas schwieg. Er wollte den Vater nicht vor der Mutter herabsetzen, aber in diesem Punkte fühlte er sich ihm weit überlegen.

»Man kann noch tausendmal mehr lieben!« dachte er im stillen.

Klare-Bels Gedanken aber träumten sich, schmerzlich und beglückt, in die Zeit ihrer Studentenehe zurück. Sie sah alles vor sich, als habe sie es eben erst verlassen, und durchwanderte jeden Winkel, der ihr Glück beherbergt hatte. Sie sah auch die Stube, wo er über seinen Arbeiten saß und sie ihn leise – ganz leise mußt' es sein – umsorgte. Aber grade dieses Bild verwischte sich ihr, wurde undeutlich wie vor Tränen. An Eriks Stelle saß ein andrer, – saß Jonas; – und immer wieder, mit einem dumpfen Zukunftsgrauen, erblickte sie sich allein, – allein mit dem Sohn.

Die Nacht lag Klare-Bel wach, und als sie gegen Morgen einschlummern wollte, schreckte sie der Gedanke auf, sie müsse über irgend etwas angestrengt und mit Schmerzen nach grübeln.

*

Am folgenden Tage fielen die Schulstunden aus, irgendeiner der zahlreichen griechischen Kirchenheiligen wurde gefeiert. Erik setzte sich am Vormittag mit einigen Büchern und Papieren ins Wohnzimmer, wo in der Nähe des Kaminfeuers ein Schreibtisch für ihn improvisiert worden war. Draußen stöberte ein ganz feines Schneewetter aus ein paar finstern Wolken, hinter deren blau-schwarzem Rande die Aprilsonne neckend bereits wie der hervorlachte. Hell und dunkel glitt es über das Zimmer hin.

Klare-Bels Augen hingen mit einem wehmütigen Ausdruck am Arbeitenden. Heute morgen wollte sie ihn fragen. Sie hielt es nicht länger aus. Wie hatte sie nur denken können, seine Briefe würden ihn verraten? Denn Ruth war ja noch so ganz unbewußt gewesen. Zu ihr konnte er nicht offen sprechen. Daher grade der auffallend zurückhaltende Ton. Vor ihr verbarg er sich – befangen und mühsam.

»Wo steckt eigentlich Jonas?« fragte Erik, über seine Ausarbeitungen gebeugt.

»Jonas ist nun doch wieder zur Stadt gefahren. Er wollte so gern seinen Freund besuchen.«

»Hoffentlich doch nicht, um wieder zu arbeiten – mit dem Freunde?«

»Vielleicht. Laß ihn, Erik. Ist er nicht ausgezeichnet geworden?«

»Ja, höchstens zu ausgezeichnet. Er hat viel vor sich gebracht, das muß man dem Jungen lassen. Sowohl was seine Fähigkeiten wie seine Ausdauer betrifft, hat er meine Erwartungen im letzten Halbjahr weit übertroffen.«

»Nicht nur das. Er ist dabei so verständig geworden. Ihm steckt kein Unsinn im Kopf. Keine Kindereien.«

»Ja. Grade das mißfällt mir. Dafür ist er zu jung. Wenn er nur nicht eng wird. Mit siebzehn Jahren muß man nicht Philister sein.«

»Ach Erik, wenn er nur brav wird.«

»Das kann er immer noch. Zunächst soll sein Temperament heraus! Heidelberg wird ihm gut tun, denk ich, und Römers Einfluß. Man muß dafür sorgen, daß er sich frei bewegen kann. Weder Zeit noch Geld

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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