Ruth - Page 59

Bild von Lou Andreas-Salomé
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kleine, kleinliche Rückerinnerungen heftete.

Langsam begann er im Zimmer auf und ab zu gehn.

Nicht daß sie jetzt dalag und litt, – aber daß sie so lange, – lange umsonst auf seine Freude gewartet, in seinen Zügen nach Freude gespäht hatte all diese Monate hindurch, – das erschütterte ihn so tief. Genesen war sie, – wie ein strahlender Weihnachtsbaum hätte das mitten unter ihnen stehn sollen zu jeglicher Stunde, lichterblitzend, mit tausend neuen kleinen Freuden geschmückt. Und sie hatten sich nicht wie frohe Kinder darum geschart – –.

Klare-Bel lag noch immer und schwieg. Er mochte nicht zu ihr hineingehn, er mochte nicht fortgehn. Noch immer ging er auf und ab wie ein Verurteilter.

Endlich kam Jonas. Die Stufen zur Terrasse sprang er herauf und hielt schon am Fenster zwei Briefe in der Hand hoch. Beim Eintreten in das Wohnzimmer warf er sie auf den Eßtisch.

»Wo ist denn Mama? Mehr war nicht im Briefkasten in der Stadtwohnung. Zwei an dich.«

»Mama ist nicht ganz wohl. Sie liegt auf ihrem Bett.«

Während Jonas auf den Fußspitzen leise ans Bett trat, griff Erik nach den Briefen. Der eine von Frau Römer, der andre von Warwara. Ohne zu wissen, warum, erbrach er zuerst Warwaras kurzes Billett: die Bitte, den nächsten Tag bei ihr zu speisen, sie bäte um Nachrichten über Bels jetziges Befinden und wünsche auch, ihm eine Mitteilung zu machen, etwa in einer Woche verreise sie bereits ins Ausland.

Erik setzte sich ans Fenster und öffnete Frau Römers Brief. Ein längerer als sonst. Acht Seiten.

»Lieber Freund!

Heute schreibe ich in einer besondern Angelegenheit, die unsre Ruth betrifft. Aber erschrecken Sie nicht, denn erstens ist es nichts zum Erschrecken, und dann ist es auch noch keine Wirklichkeit, sondern vorläufig nur eine Möglichkeit.

Sie erraten wohl, daß sich's um Jurii handelt. Ich wußte wohl von seiner jugendlichen Schwärmerei für Ruth, ohne sie besonders zu beachten. Dergleichen ist am Ende kein Unglück für einen jungen Menschen. Jetzt aber glaube ich, daß er Ruth ernsthaft liebt und im Begriff steht, um sie zu werben. Dies ist nun von geringem Interesse für Sie, es sei denn, daß ihn Ruth wiederliebt. Dafür hab' ich keinerlei stichhaltige Beweise. Aber das Wunderliche ist, daß man nie ganz ergründen kann, was in Ruth vorgeht, und wie sie in ihrem innersten Herzen denkt. Nie sah ich einen Menschen, der offner, nie einen, der verborgener gewesen wäre als sie. Offen: bewußt; verschlossen: unbewußt. Es ist, als führe sie noch hinter allem andern, was sichtbar wird, ein geheimes Eigenleben für sich, wovon sie selbst nicht recht weiß, woraus aber bei ihr dennoch alle entscheidenden Gefühle und Gedanken kommen. So könnte sie recht gut einmal sich selbst zur Überraschung handeln, – ihrer ganzen klaren, frischen, heitern Unbefangenheit zur Überraschung, – und grade damit ihr eigentlichstes Selbst erst zum Ausdruck bringen. –

Aber nun zu Jurii. Ich kann über ihn nur Gutes, ja Vor treffliches mitteilen. Ich kann es nur in die Worte fassen: hätt' ich eine Tochter, – mir sollt's recht sein. Er ist brav, sympathisch, sehr begabt, ernst in der Richtung seines Wesens und seiner Interessen. Gänzlich unverdorben. Dazu kerngesund und ein bildhübscher Junge. Das ist viel auf einmal. Über Familie und Verhältnisse wurde Ihnen selbst schon das Beste bekannt. Seine große Jugend ist kein Fehler, da ihn Ruth mit ihm teilt und ihn die Zeit so gründlich heilt.

Aber glauben Sie, bitte, trotzdem nicht, daß meine Wünsche Ruth vorauslaufen, – auf Kupplerfüßen laufen. Ich wünschte nur, Sie rechtzeitig vorzubereiten, damit Sie überlegen, wie Sie sich zur Sache stellen wollen. Denn gegen Ihren Willen, – nein, auch nur ohne Ihren vollen Willen, – würde ja wohl Ruth nie etwas tun –«

Erik las nicht weiter.

Er über flog die nächsten Seiten: sie handelten nicht mehr hiervon.

Ruths Schweigsamkeit, – war sie doch gewollt, bewußt? Abkehr von ihm, eine stille Wandlung?

Er glaubte seinen eignen erwachenden Zweifeln nicht. Aber sie kamen wieder. Hell und dunkel, Licht und Schatten glitt es über seine Gedanken hin, wie draußen.

»Aprilwetter – in mir! um einen Knaben!« murmelte er im Zorn über sich, »in Angst um eine Aprillaune, – in Angst, in den April geschickt worden zu sein!«

Er war so zornig, so ungerecht als möglich gegen sie, gegen sich selbst.

Beim Heraustreten aus dem Zimmer der Mutter sah Jonas den Vater über die Terrasse in das Schneegestöber hinausgehn.

Und Klare-Bel wollte ruhen, wollte allein sein. So schlich er sich in seine Stube.

Als Erik nach ein paar Stunden nach Hause kam, bemerkte Gonne gegen ihn, die Frau habe sich zur Ruhe begeben, sie sei krank.

Er ging zu ihr.

Sie saß auf recht im Bett; auf dem Tischchen daneben lagen Bücher. Im Nachtjäckchen, ihre kleine Haube auf dem wie zur Nacht glatt zurück gestrichenen blonden Haar, sah sie ihm verwirrt und angst voll entgegen. Als fürchte sie sich vor ihm. Als schäme sie sich vor ihm.

Er ertrug es nicht. Er beugte sich über sie, das Gesicht auf ihren Händen, und küßte diese. »Bel, – Bel, – verzeih mir.«

Sie gab sich Mühe, zu lächeln, es war ein merkwürdiges, schwaches, kleines Lächeln, das dabei herauskam. Und nun wurde sie dunkelrot.

»Ach Erik, – nicht so. Es ist mir zu – es ist mir so ungewohnt. Schrecklich ist mir's. Sprich nicht so zu mir.«

Er setzte sich neben sie, auf den Stuhl an ihrem Bett.

»Lasest du, Bel?« fragte er zerstreut, gepeinigt.

»Ja, Erik. Du mußt nicht böse drüber sein. Es sind so alte Bücher, – die alten, weißt du? Aber neulich fand ich einmal etwas, und das machte mich so glücklich. Das suchte ich mir heute auf. Es ist so schön zu lesen, Erik.«

Sie sprach rasch, befangen, wie ein verlegenes Mädchen.

Er blickte nieder auf die Bücher. Ein goldenes Kreuz auf dem einen. Und das andre: P. A. de Génestets »Laiengedichte«, – diese echt holländischen Lieder, worin sich Trotz und Glaube, Trost und Zweifel seltsam genug mischen.

»Ich hatte sie so völlig vergessen, alle beide. Weiß selbst nicht, wie nur. – Wie gut, daß so etwas dableibt, ob man es auch vergißt. Sie waren so verkramt, und ganz staubig, als ich sie neulich fand. – Willst du mir die ›Laiengedichte‹ herreichen, Erik? Ein Lesezeichen liegt drin.«

Er

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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