Ruth - Page 63

Bild von Lou Andreas-Salomé
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genügt. Ich bitte dich so sehr darum. Mit Jonas bin ich nicht allein. Er hat so feine Augen. Vor ihm will ich nicht –«

Sie brach ab, aber der einzige Stolz, den sie besaß, ihr Mutterstolz, schrie in ihr: »Vor ihm will ich mich nicht in meiner Schwäche zeigen, in meinem Elend!«

»Nun gut. Auch das. Dann soll er dich nur bis über die Grenze bringen. Darauf besteh' ich, Bel.«

»Ich danke dir. Und nun muß ich dir noch das andre sagen, Erik.«

»Was denn?«

Er schritt unruhig ein paar mal durchs Zimmer und lehnte sich ans Fenster. Sie sprach so klar und so ruhig bewußt. Er kannte seine Bel vollkommen, – jede leiseste Regung in ihr kannte er, – und beeinflußte er. Und nun ging von ihrem Wesen ein ihm Unbekanntes, ihm Entrücktes aus, – etwas Fremdes. Er fühlte es, ohne sich's noch erklären zu können, wie einen Druck auf die Nerven. Ein ganz seltsames Gefühl: als sei noch ein Dritter im Zimmer.

»Ich will es nur lieber schnell heraussagen, Erik. Das andre ist, daß auch du verreisen sollst, – so bald als möglich. Nicht erst zum Sommer, um mich abzuholen. Bald, – eher, – in den Ostertagen. Wo du zwei Wochen Zeit hast. Um sie wiederzusehen. Um dich zu überzeugen, ob wohl auch sie – –. Ganz gewiß, das mußt du tun. Denn sonst bist du zeitlebens unglücklich, Erik. Und das, – siehst du, – das könnt ich ja nicht aushalten.«

Die Röte war ihm übers Gesicht geschossen. Dunkelrot bis über die Stirn. Er warf den Kopf zurück gegen die Fensterscheibe.

Das war es: eine neue Stütze besaß sie, die sie selbständig gehn und handeln lehrte! Einen neuen Herrn: schon handelte sie auf sein Geheiß!

Wie hatte er nur an Kampf denken können – mit Bel! Kampf? Nein, ausrauben, ausplündern wollte er sie! Aber sie ließ es nicht zu: sie beschenkte ihren Räuber, – freiwillig, überreich beschenkte sie ihn: »Nimm, du Armer, vom Glück Abhängiger, – ich kann's entbehren, bin die Stärkere, – ich kann entsagen, – du – nicht.«

Und glühend brannte in ihm die Scham empor, – glühende Scham, – und Auflehnung als einzige Antwort: »Tausendmal lieber ein Räuber als ein Beschenkter!«

Klare-Bel sah den Schweigenden, Wortlosen nicht an. So ganz ergriffen und benommen war sie von dem Schweren, was sie vorhatte, daß ihn ihre Blicke nicht suchten, nicht befragten, wie sonst wohl.

»Heute nacht lag ich immer und dachte: wenn es anders möglich wäre! Aber das ist es ja: es ist nicht möglich. Du kannst nicht aufhören, an sie zu denken, und ich, – wie sollte ich – wie sollte ich nicht anfangen, sie zu hassen? Und so versündigen wir uns aneinander, Erik. Das soll nicht sein. Es ist immer alles schön gewesen zwischen uns. Es kann traurig werden, – sterbenstraurig. Aber nicht häßlich. Das soll es nicht. Ich ertrüg' es nicht.«

Ein halber Laut entfuhr ihm. Sie, – was wußte sie wohl von »Haß«. Von Häßlichem. Nein, nichts! Es erfüllte ihn mit einem fast andächtigen Staunen: in ihr wurden die Gedanken nicht häßlich, nicht bitter und ungerecht, im Kampf und Zweifel, im Aufruhr und Schwanken der Seele. Sie dachte nichts Häßliches.

»Und nun habe ich auch verstanden, – heute nacht, – warum ich gesund geworden bin,« sagte Bel leiser, als er noch immer schwieg, »und warum wir doch dessen nicht froh werden konnten. Nicht froh, obgleich ich auf meinen Füßen stehn und gehn konnte. Gott sprach darin zu mir: ›Geh!‹«

»Bel!« stieß er gequält heraus. Diese religiöse Exaltation war ihm entsetzlich. Aber Klare-Bel sagte ruhig, beinahe freundlich: »Ja, Erik. Und ich gehe. Gott selbst wollte es so. Er wollte es. Aber Jonas mußt du mir später lassen. Bei mir lassen. Jonas gehört mir mehr als dir.«

Höchstes und Alltägliches ging durcheinander. Erik fand: nun redete sie von der Trennung und Scheidung wie von einem Hausumzug; »dies ist mehr mein, – dies mehr dein.«

Er trat an ihr Bett.

»Hör mich jetzt an, Bel. Du fassest keinen Entschluß – über nichts, – eh ich jetzt zu dir gesprochen habe. Offen. Offner als bis her. Denn du weißt nicht alles.«

»Ach Erik, – sage nichts! Es ist schrecklich, es zu hören! – Nichts, – nein! Nur eins – hätt' ich von dir erbeten!«

Er ergriff die Hände, die sie gegen ihn vorstreckte, und hielt sie sanft fest.

»Es muß sein, Bel. Du muß mich hören.«

»Warte noch. Bitte, nicht! Erik, – sag mir nur erst: – hast du – ihr schon geschrieben?«

»Ja,« versetzte er erstaunt.

»Ich meine – den andern Brief?«

»Ja, – auch den andern.«

»Und du hast ihn vernichtet. Nicht wahr, – das hast du doch?«

In diesem Augenblick wußte er es selbst nicht. Unwillkürlich griff er an die Tasche seiner Joppe. Er knisterte leise unter seinen Fingern.

»Erik! – das ist das einzige, – was ich von dir erbitten wollte.«

Seine Hand krampfte sich zusammen um das dünne zerknitterte Papier, – wieder stieg ihm eine Blutwelle ins Gesicht, – wieder die Röte der Scham, einer feinen, empfindlichen Scham. Nein, – nur das nicht! Das konnte er nicht! Vor Bels Augen das Innerste, Geheimste bloßlegen, – sein Heiligstes und sein Unheiligstes, – den Aufruhr der wildesten Stunde, – die Andacht der stillsten –.

Aber nur einen Augenblick lang zauderte er so. Sie hatte recht, – tausend mal hatte sie ein Recht darauf! Und was sie daraus erfuhr, war, was sie erfahren mußte, – sich zu erfahren scheute. Und wenn es mehr war, als sein Bekenntnis hätte aussprechen können, – wenn er selbst es war mit allem, was in ihm tobte, gärte, schluchzte, kämpfte, – mit allem Häßlichen auch, und dem Aufschrei nach Glück, – dann war es gut so.

Vor seinen Worten scheute sie sich, – vor der endgültigen Klarheit: und in dieses Dunkel griff sie verlangend, – vermessen. Wer ergründet wohl einer Frauenseele Furcht und Neu gier!

Er reicht ihr das zerdrückte Blatt, – zusammengeballt war es zu einer Kugel.

»Du hast es gewollt.«

Dann verließ er sie.

Nebenan in Wohnzimmer stand der Frühstückstisch noch unabgeräumt. Jonas hatte vergeblich auf den Vater gewartet und zur Schule gehn müssen.

Erik blieb in der Mitte der Stube stehn und starrte ins Leere.

»Nicht entsagen!« war sein einziger deutlicher Gedanke. »Nicht entsagen!

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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