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nicht in der Versuchung des Mitleides, – nicht in der schlimmern: der Versuchung der Scham.«
Ihm war, als handle sich's gar nicht um einen einzelnen Menschen, noch weniger um ein Weib, – nein, um alles, was Mensch hieß, was ihm Mensch sein konnte, – um alles, was er noch berühren konnte, schaffend, wirkend, liebend, – – um sein eignes Menschsein.
Es konzentrierte sich jetzt in diesen zwei kindlichen, gläubigen Augen, die auf ihn warteten und zu ihm emporschauten.
Entsagen hieß in die Wüste gehn – nicht nur mit seiner Liebe, – auch mit seiner Tatkraft, – mit seiner Kraft überhaupt, – ins Unfruchtbare, in die tote Einsamkeit.
Gab es eine Kraft auch für die Wüste? Die in solcher Einsamkeit stand hielt? Ja in ihr vielleicht erst erstand? Die nicht mehr eines andern bedurfte, um stark und schön zu bleiben, – keiner Augen, die da glaubten und warteten und an sie appellierten?
Ja, vielleicht! für Reflexionsmenschen, die sich selber über die Schulter gucken, sich in sich selbst bespiegeln – spottend oder genießend! Oder für Gefühlsmenschen, die in ihren eignen Erregungen sentimental zu schwelgen und zu schwimmen wissen, – auch sie ihr eignes Publikum!
VI.
Aber nicht für solche, die in sich selber unteilbar eins sind und daher auch hilflos in sich selber, – wenn sie sich nicht dadurch helfen können, daß sie handeln, aus sich heraus wirken – und sich selbst erkennen, widergespiegelt im Auge eines andern.
Aber Bel? Warum konnte sie entsagen? sie, die weder in Reflexionen noch in Gefühlen schwelgte, sie, die vielmehr naiv und nüchtern war und keineswegs ihr eignes Publikum? Aber so ging es auch: mit dem großen suggerierten Zuschauer, – mit dem da oben, der sah alles. Auch sie hatte ihren Spiegel, für den sie sich schön erhalten mußte, – das Gottesauge, den blauen Himmelspiegel!
Ein schwacher Laut, wie ein Stammeln oder Stöhnen, drang aus Klare-Bels kleinem Nebengemach. Es war, als wollte sie Erik in seinen bittern Gedanken unterbrechen – widerlegen.
Er trat zur offnen Tür.
Bel hatte den Brief von sich geworfen, weit fort, auf den untern Rand der Felldecke. Sie lag da, das Antlitz glutrot in den Händen vergraben.
»Lieber Gott!« betete sie, »großer, barmherziger Gott, der du im Himmel bist und in die Herzen der Menschen hinein siehst: nimm mir meine Liebe aus meinem Herzen!« –
*
Warwara war sehr überrascht, als sie am nächsten Tage Erik auf der Straße traf und von der unmittelbar bevorstehenden Abreise seiner Frau hörte. Sie redete auf das lebhafteste zu, noch eine einzige Woche zu warten und Klare-Bel dann mit ihr zusammen hinausreisen zu lassen. Aber es fruchtete nichts. Schon den folgenden Morgen konnte sie der Fortfahrenden, der sie baldigen Besuch im Bade versprach, einen mächtigen Rosenstrauß in das Waggonfenster stecken. Warwara war außer Erik die einzige, die Mutter und Sohn das Geleit gab, und sie fand, daß sich die Gatten nicht ganz unbefangen gegeneinander verhielten.
Nach Abfahrt des Zuges verabschiedete sich Erik nur kurz und hastig von ihr. Sehr nachdenklich fuhr sie nach Hause.
Ihre klugen Gedanken mißverstanden ihn vollkommen. Sie glaubte ihn eigentlich als Mann in seinem eignen Heim befriedigt, aber als Mensch in seinem Wirkungskreise unbefriedigt. Und wenn sie, scherzend oder ernst, von »Versuchungen« für ihn sprach, so meinte sie damit gelegentliche Versuche, die hungernde Tatkraft durch Näschereien und Tändeleien zu betäuben. War jetzt so etwas im Spiel? Jetzt, wo Erik so völlig zurückgezogen lebte – schon seit einem Jahr? Wo er ganz aus der glänzenden, leichtlebigen Welt der Gesellschaft verschwunden war, die ihn einst fesselte und die er gefesselt hatte? War eine Frau im Spiel? –
Einige Tage später, an einem Sonntagvormittag, wollte Warwara eine notwendige Besichtigung ihres Landhauses zum Anlaß nehmen, um bei Erik vorzusprechen und zu erfahren, ob Jonas mit guten Nachrichten von der Grenze heimgekommen sei.
Beim Einsteigen in die erste Klasse des finnländischen Zuges erstaunte sie darüber, sich nicht allein zu finden. In der Ecke ihr gegenüber saß eine ganz junge Dame und blickte mit großen erwartungsvollen Augen zum Fenster hinaus.
Warwara betrachtete sie mit flüchtigem Interesse. Wie immer, fielen ihr zuerst und hauptsächlich lauter einzelne Äußerlichkeiten auf.
Ein zarter, schmächtiger Wuchs; das eng anliegende dunkelblaue Tuchkleid mit offnem Jackenteil, auf tiefrotem englischem Flanell abgefüttert, zeigte nur hoch am Halse einen kleinen weißen Linnenstreifen. Ein schmaler Fuß guckte in ungeduldiger Bewegung unter dem Rock hervor. Aschblondes Haar, von einer starken Schildpattnadel im Knoten zusammengehalten, drängte sich um Stirn und Schläfen etwas kraus aus einem weichen Barett von dunkelblauem Samt hervor.
In Warwara stieg eine unbestimmte Erinnerung auf, sie wußte nicht, an wen. Eine junge Engländerin? So eindringlich blickte sie auf ihr Gegenüber, daß sich dieses ein wenig befremdet nach ihr umwandte.
Ein paar Sekunden lang erwiderte das junge Mädchen fest und forschend ihren Blick. Dann grüßte sie mit einem schwachen Lächeln.
Das Lächeln half Warwara plötzlich auf die Spur.
»Ruth!« entfuhr es ihr. Sie verbesserte sich sofort, lachend. »Verzeihen Sie nur. Die Zudringlichkeit erst und jetzt. Aber ich suchte und suchte, und was ich fand, war, was mir im Gedächtnis geblieben ist. Ihr Vorname.«
»Er genügt ja vollkommen,« sagte Ruth. »Ich nehme an, wir haben einen Weg?«
»Nein!« versetzte Warwara mit raschem Takt, denn sie wollte nicht stören, »ich fahre nur zu einer Besichtigung meines reparaturbedürftigen Landhauses hinaus. Aber unsre Freunde erwarten Sie?«
Ruth errötete und schüttelte den Kopf.
»Nein, ich bin sehr – ganz unerwartet von Heidelberg abgereist,« entgegnete sie mit auffallender Befangenheit.
Warwara durchzuckte blitzähnlich ein Verdacht. »Das ist sie, – die ›Versuchung‹,« dachte sie, »sehr jung, aber ich argwöhnte schon damals hinter ihren geübten Formen: sehr durchtrieben.«
»Da wird es Ihnen leid tun, eine Lücke zu finden,« bemerkte sie laut, »denn Sie wissen wohl noch gar nicht, daß Sie Klare-Bel nicht treffen? Sie ist schon abgereist.«
»Nein!« rief Ruth betroffen, »das konnt' ich ja noch nicht wissen! Es hat doch keinen schlimmen Grund? Ja, das tut mir leid!«
Sie sah so ehrlich aus mit ihren ungeduldig fragenden Augen, daß sich Warwara schämte. »Sie wußte wirklich nichts davon, es war nicht verabredet, was bin ich für ein häßlicher Mensch!« sagte sie zu sich und wandte sich in herzlichem Tone zu Ruth. »Nein, kein schlimmer Grund. Klare-Bel ist so gesund; wie man's nie hätte erwarten dürfen, und nun geht es