Gefährlicher Sommer (Teil 21; Text 1) - Page 4

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Seiten

dem Einkauf im Dorf, als wir Tante Sarah und Onkel Ludwig einen Blitzbesuch abstatten wollten und nach drei Stunden, abgefüllt mit Pudding, Kirschen, Erdbeeren, Brombeeren, Pflaumen, Kuchen und Eis vor Trägheit kaum noch in die Pedalen kamen? Ganz zu schweigen von den Tüten voller Erbsen, Bohnen, Gurken, Petersilie, Tomaten und Kopfsalat, die wir für meine Großeltern und deine Tante mitschleppen mussten, als ob auf Hof Lachau die Dürre ausgebrochen wäre und sämtliche Bewohner dem Hungertod nahe. Geiz kann man Tante Sarah und Onkel Ludwig wirklich nicht vorwerfen. Sie sind ausgesprochen gastfreundlich und herzensgut zu jedermann.
„In ungefähr zwei Stunden essen wir, Katja“, wandte sich Oma plötzlich an mich, mit einem Blick, als wolle sie mich in Hypnose versetzen, damit ich ja pünktlich käme und nicht etwa die Lobeshymnen hinsichtlich ihrer Kochkünste ver­passte.
„Bis dahin solltest du dich in meiner Küche eingefunden haben.“ Der scharfe Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Jetzt glauben Onkel Ludwig und Tante Sarah vermutlich, dass ich unpünktlich und unzuver­lässig bin, dachte ich traurig, sagte mit brummiger Stimme: „Ja, Oma“ und drehte ihr demonstrativ den Rücken zu. Omas Blicke bohrten sich wie Giftpfeile in meinen Nacken. Mutti guckte nur irritiert in der Gegend herum.
Ich schlug den Weg zur Weidekoppel ein, von der die Kälber Reißaus genommen hatten, und obgleich ich noch ziemlich weit vom Schauplatz entfernt war, stieg mir bereits nach wenigen Metern der friedliche Duft der reifen Kornähren in die Nase, und beim Anblick der ersten Haferfelder, die silbrig in der Sonne funkelten, wurde mir klar, dass ich den drei Cowboys Hannes, Heiner und Kröger nicht mehr nütz­lich sein konnte. Offenbar hatten sie die entflohenen Tiere bereits eingefangen. Der erste Acker, von den Kuhställen aus gesehen, erweckte einen extrem ver­wüsteten Eindruck, genauer gesagt, drängte sich mir bei seinem Anblick die Vorstellung auf, drei ausgewachsene Elefanten hätten im Hafer „Versteck“ oder „Fangen“ gespielt.
Knut hatte sich im vergangenen Jahr über ein paar Rehekitze aufgeregt, die im Hafer geäst hatten. Was hätte er nur zu den Kälbern gesagt! Vermutlich hatte Kröger noch nicht alle Zäune repariert. Er schaffte die Arbeit nicht ohne Helge.

Die brennende Julisonne flimmerte über der Erde. Es war noch nicht mal elf Uhr und schon barbarisch heiß. Mir schien, als versenge der Staub meine nackten Sohlen. Ich hatte Lenis Gummikruken zurück in die Waschküche gebracht und war noch immer barfuß.
Über den erntereifen Ähren des Feldes lag pralle Sonne. Das Getreide stand dermaßen hoch, dass man darüber hinaus nur noch den strahlend blauen Himmel sah, während sich der benachbarte Raps vor der Hitze zu verneigen schien: Seine dottergelben Blüten krümmten sich zur Erde.
Hannes kam mir entgegengeschlichen. Er hielt tatsächlich ein Lasso in der Hand, ein dickes, langes Tau, das er auf dem staubigen Feldweg, der wie ein Waschbrett von tiefen Rillen durchzogen war, achtlos hinter sich herschleifen ließ. Kora an meiner Stelle würde jetzt vermutlich „Ich will 'nen Cowboy als Mann“ trällern, dachte ich und musste unwillkürlich lächeln.
„Ach, auch noch schadenfroh, an­statt uns behilflich zu sein“, schimpfte Hannes los, als ich vor ihm stand. Die Worte purzelten wie giftige Pilzstücke aus seinem Mund.
„Blödsinn“, sagte ich. „Meine Großeltern haben Besuch bekommen, sonst hätte ich euch gleich ge­holfen. Und überhaupt, was fällt dir eigentlich ein, mich derart zu be­schimpfen? Ich kann schließlich nichts dafür, dass die Haltbarkeit der Zäune auf den Weidekoppeln offenbar einiges zu wünschen übrig lässt.“
„Entschul­dige, Katja. Es war nicht so gemeint“, brummte Hannes und strich sich das schweißnasse Haar aus der Stirn. Er ließ sich am Feldrain zwischen den blühenden Kornblumen, deren Blau mir in diesem Sommer irgendwie blasser schien, ins Gras sinken und schloss die Augen.
„Mann, bin ich kaputt von diesem grotesken Manöver!“, keuchte er. „Außerdem haben wir Spuren im Haferfeld gefunden. Spuren, die darauf hinweisen, dass dort jemand gejagt hat. Eindeutig!, Katja.“
„Was kann man im Haferfeld jagen, Hannes?“, fragte ich.
„Haferflocken gewiss nicht“, gab Hannes schnippisch zur Antwort. „Möglicherweise Rebhühner, Wildschweine oder weiß der Teufel was! So bekloppt müsste ich sein, denen über die Äcker nachzuhetzen. Das kann nur ein armer Irrer gewesen sein!“ Hannes tippte sich an die Stirn.
„Diese dämlichen Kälber! Als ob es nicht völlig ausreichen würde, dass sich die Wildsauen mit unserem guten, milchigen Hafer den Waidsack vollschlagen. Das ist übrigens ihre Lieblingsspeise. Neben unseren ebenfalls hervorragenden Kartoffeln. Diese Biester können im Handumdrehen ganze Kartoffeläcker abernten, ziehen einfach das Kraut raus und fressen sich dumm und dusselig.“
Ich griente. „Ganz schön schlau, findest du nicht, Hannes?“
„Ach Kindchen(!), weißt du übrigens, dass bereits im Mai die meisten Rapsblüten geplatzt sind, was man es regelrecht hören konnte und dass Oskar auf den Ostwiesen das Heu wenden soll?“, fragte er plötzlich ohne jeden Zusammenhang.
Ich sah Hannes besorgt an und ließ mich neben ihm ins Gras fallen. Die Sonne verschwendete gnadenlos ihre Glut auf die ungeschützten Felder, und von der Erde schwoll die Hitze zwar empor wie bei Flut das Meer, aber ohne dessen Erfrischung. Es war zudem vollkommen windstill.
Nach einer Weile stellte ich Hannes die Möglichkeit eines Sonnenstichs in Aussicht und bat ihn, mit in die Veranda zu kommen. Er stand sofort auf, und wir machten uns auf den Weg zum Gutshaus.
„Sag mal Hannes, läuft da eigentlich was zwischen der Gnädigsten und deinem Vater?“, stellte ich ihm die Frage, die mir seit einer geraumen Weile auf den Nägeln brannte. Ich verwendete die gleichen Vokabeln wie die Gnädigste, ihre Wortwahl hatte mir gefallen.
„Zwischen dem Gutsverwalter Axel Kröger und der Gutsherrin Karla Brandner? Wie kommst du denn auf diese absonderliche Idee?“, fragte Hannes und tippte sich mit dem Zeigefinger an die hochrote Stirn.
„Naja, er nennt sie immerhin ,Karla'“, begründete ich meine Vermutung. „Das hat nicht das Geringste zu bedeuten“, sagte Hannes und machte eine weg­werfende Handbewegung. „Zwischen dem Gutsverwalter und seiner Chefin läuft ungefähr so viel wie zwischen Konny und mir. Also nicht die Bohne. Außerdem bin ich mir so gut wie sicher, dass sich die Gnädigste wieder einen Jäger nimmt, sollte sie nochmals heiraten. Wetten? – Und mein Vater ist wohl eher das Gegenteil eines flotten Hunters. Obwohl er im Jagdzimmer nächtigt." Er grinste von einem Ohr zum anderen.
Dann sah er mich mit einem Mal verblüfft an: „Arme Katja, du hast dich doch wohl nicht etwa in meinen Vater verliebt? In diesen uralten, spleenigen Knaben?“ Seine Frage klang spöttisch, eher wie eine Feststellung, und ich zuckte bei seinen Worten zusam­men, als wäre ein scharfer, greller Blitz durch meinen Körper gezuckt. Mir war mit einem Mal zumute, als sei urplötzlich eine Erleuchtung über mich ge­kommen, eine nicht zu überbietende Ge­dankenklarheit, die unmittelbar zur Folge hatte, dass alle Spannungen und Barrieren, die während der letzten Zeit in meinem Innnersten gewütet hatten, sich in auflösten und schnurstracks aus meinen Körper wichen, als hätte „Macheath“ ihnen mit seiner Frage den Garaus gemacht. Ich versuchte so gut es ging, meine Aufregung vor Hannes zu verbergen.
„Merk dir gut, Katja“, fuhr Hannes mit düsterer Miene fort, „mein Vater ist ...“ Er brach den begonnenen Satz, vor dessen Ende ich mich bereits nach den ersten beiden Worten gefürchtet hatte, unvermittelt ab und starrte vor sich hin.
„Was ist dein Vater, Hannes?“, fragte ich heiser und spürte voller Unruhe, wie sich mein Herzmuskel vor Anspannung verkrampfte. Aber Hannes sah mich lediglich nachdenklich an und schwieg.
Nach einer Weile, wir be­fanden uns bereits im Hof, ließ er mich ganz nebenbei wissen, dass man Tante Selma am Nachmittag aus dem Krankenhaus entließe.
„Hast du Lust, nach dem Mittagessen mit uns das Haus zu schmücken? Wir wollen sie ge­bührlich willkommen heißen. Der Fraß, den Kora in der Küche zusammen­braut, hängt Konny und mir mittlerweile zum Hals heraus.
„Klar helfe ich euch“, sagte ich. „Aber weshalb kocht ihr eigentlich nicht selber, wenn euch Koras Essen nicht schmeckt!?“
Hannes warf mir einen derart vernichten­den Blick zu, dass mir zu diesem Thema absolut nichts mehr einfiel, liebe Christine. Wir trenn­ten uns wortlos vor der Veranda, und ich ging ins Haus. Als ich die Tür zum Saal hinter mir geschlossen hatte, atmete ich erleichtert auf. Hannes' Vater war mit Abstand der Letzte, dem ich zu diesem Zeitpunkt hätte begegnen wollen.

Seiten

Prosa in Kategorie: 
Thema / Klassifikation: