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soviel Erbarmen, soviel Vertrauen einflößen könnte, um dich mit meinem Lose zu verknüpfen ... Du wärest vielmehr meine Freundin als meine Dienerin; ich würde dir keinen Lohn bieten, nein, die Hälfte meines Besitzes ... Nun also, Justine? Fühlst du den Mut, meinen Vorschlag anzunehmen? Vermag die Gewißheit, an so guten Handlungen teilnehmen zu dürfen, deine edlen, tugendhaften Empfindungen anzufachen? Darf ich endlich hoffen, eine Freundin gefunden zu haben?« Ein Glas Champagner wurde von beiden ausgetrunken, bevor Justine sich geäußert hatte; dieser Zaubertrank, dessen merkwürdige Eigenschaft im Menschen zugleich alle Laster und alle Tugenden erweckt, bestimmte rasch die kluge Justine, eine so Teilnahme erweckende Trau, wie die, welche ihr das Glück in Aussicht stellte, nacht im Stiche zu lassen. »Ja, Madame,« sagte sie zu ihrer neuen Freundin, »rechnen Sie darauf, daß ich Ihnen überallhin folgen werde; Sie bieten mir Gelegenheit, die Tugend zu üben; wie muß ich dem Ewigen danken, daß er mich instand setzt, mit Ihnen diesen meinen Trieb zu befriedigen! Wer weiß, ob es uns nicht durch gute Ratschläge, Geduld und ausgezeichnete Beispiele glückt, Ihren Mann zu bekehren! Die Bitten, die wir an den Himmel richten, sind so innig! Hoffen wir, eines Tages Erfolge zu erreichen!« Madame d'Esterval bemerkt während dieser Rede ein Kruzifix und wirft sich voll Zerknirschung davor auf die Knie. »Christengott!« rief sie weinend, »wie muß ich dir für eine solche Begegnung danken! Erhalte mir lange diese Freundin und belohne sie für ihren Eifer!«
Sie erheben sich vom Tische; Madame d'Esterval bezahlt freigebig alle Auslagen; unsere beiden Frauen machen sich sodann auf den Weg.[271]
Von der Herberge, die sie verlassen hatten, bis zu der des d'Esterval betrug der Weg fünfzehn Meilen, von denen sechs im dichtesten Walde zurückgelegt werden mußten. Nichts friedlicheres als dieser Marsch; nichts Teilnahmenderes, Zärtlicheres, Tugendhafteres als all das, was während des Gehens gesprochen wurde; nichts Angenehmeres als die Projekte, die entworfen wurden. Endlich kamen sie ans Ziel.
Als die Frau d'Esterval von der Lage der Herberge gesprochen hatte, hatte sie nur eine schwache Vorstellung der Wirklichkeit erweckt. Man hätte sich keine wildere Stätte vorstellen können ... Da das Haus ganz in einer mit Hochwald bewachsenen Schlucht verschwand, konnte man erst dann seiner gewahr werden, wenn man unmittelbar davor stand. Zwei riesige Doggen bewachten die Tür; d'Esterval selbst empfing, von zwei starken Mägden begleitet, seine Frau und Justine. – »Wer ist dieses Geschöpf?« fragte der wilde Wirt, die Gefährtin seiner Frau betrachtend. – »Das ist etwas, was wir brauchen, mein Sohn,« antwortet die d'Esterval in einem Tone, der unserer unglücklichen Heldin langsam die Augen öffnet und ihr begreiflich macht, daß zwischen jener und ihrem Gatten ein viel größeres Einverständnis bestand, als sie hatte vorher merken lassen. »Findest du sie nicht hübsch?« – »Ja, Sapperlot, ich finde sie so; wird aber das Ding ficken?« – »Bist du nicht ihr Herr, sowie sie bei dir eintritt?« Die zitternde Justine wird mit ihrer Führerin in einen niederen Raum gebracht, wo der Wirt, nach einem kurzen, leise geführten Gespräch mit seiner Frau an unsere Heldin ungefähr folgende Worte richtete:
»Von allen Abenteuern, die Ihnen im Laufe Ihres Lebens zugestoßen sind, wird dieses, mein teueres Kind, Ihnen sicherlich am merkwürdigsten vorkommen. Von Ihrer dummen Tugendbegeisterung getäuscht, sind Sie – wie meine Frau mir mitteilt – in viele Fallen schon geraten, in denen man Sie durch Anwendung von Gewalt fing; hier geschieht dies bloß durch List. Dort waren Sie der Gegenstand vieler Verbrechen, ohne an irgendeinem teilzunehmen. Sie werden hier bei allen mitwirken, ohne daß Sie sich helfen können; Sie werden freiwillig daran teilnehmen; Sie werden dazu genötigt sein, ohne anders als durch moralische Bande und durch Ihre Tugenden dazu gezwungen zu werden.« – »Mein Herr! mein Herr!« schrie die gute Justine, »ach, mein Herr, sind Sie denn ein Zauberer?« – »Nein,« erwiderte d'Esterval, »ich bin nur ein Frevler, ohne Zweifel ein ziemlich merkwürdiger; doch unterscheiden sich meine Triebe und Verbrechen nur durch die Form von denen vieler Leute, die gleich mir die Bahn[272] des Lasters durchlaufen und die im Grunde die gleichen Mittel anwenden. Ich hin Frevler aus Gründen der Wollust. Reich genug, um mein Gewerbe nicht ausüben zu müssen, betreibe ich es dennoch wegen meiner Leidenschaften; diese werden merkwürdigerweise nur dann gekitzelt, mein Glied steht einzig und allein nur dann, wenn ich stehle oder morde; nur dann kann ich in Feuer geraten. Nichts anderes könnte mich in den zum Genuß nötigen Zustand versetzen; sowie ich aber das eine oder andere Verbrechen begangen habe, kocht mein Blut, mein Glied bäumt sich und ich brauche unbedingt Weiber. Da mir aber meine Frau nicht genügt, ersetze ich sie durch Mägde oder durch junge, hübsche Dinger, die uns der Zufall schickt. Kommen sie nicht von selbst, dann sucht Madame d'Esterval welche ... Sie ist ein famoses Geschöpf, dieses Weib; da sie den gleichen Geschmack, die gleichen Phantasmen hegt, hilft sie mir und wir pflücken nacheinander die Früchte.« – »Was?« fragte Justine, in deren Ueberraschung sich der Schmerz mischte, »Frau d'Esterval hat mich betrogen?« – »Gewiß, wenn sie sich tugendhaft gezeigt hat; denn schwerlich kann man sich eine verderbtere Frau denken. Doch mußten Sie verführt werden; List und Betrug waren nötig. Sie werden hier meinen und meiner Frau Genüssen zu willen sein und ... ja, mein Engel, das wird Sie erbeben machen: Sie werden die Circe der hier einkehrenden Reisenden sein; Sie werden sie liebkosen, sie fesseln, ihnen zu willen sein, alle ihre Leidenschaften befriedigen, um ihr Verderben umso sicherer herbeizuführen ... damit wir sie dann umso leichter umbringen können.« – »Und Sie glauben, mein Herr, daß ich in diesem höllischen Hause bleiben werde?« – »Mehr als das, Justine; ich habe Ihnen gesagt, daß es Ihnen schwer fallen wird, zu fliehen, daß Sie gerne hier bleiben werden, wenn Sie alles wissen werden ... denn es wird Ihnen unmöglich sein, nicht hier zu bleiben.« – »Erklären Sie sich, mein Herr, ich beschwöre Sie darum!« – »Ich werde es tun; hören Sie mich an, verdoppeln Sie gefälligst Ihre Aufmerksamkeit ...« Aber in diesem Augenblicke läßt sich ein großer Lärm im Hofe vernehmen; d'Esterval war genötigt zu unterbrechen, um