Justine oder vom Missgeschick der Tugend - Page 114

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Wäsche hatte sie ein hinlänglich starkes Seil gebildet, um sich damit in die Tiefe lassen zu können. Als man ihr ihre Sachen weggenommen hatte, hatte sie, wie erwähnt, ihr kleines Vermögen zurückbehalten und stets sorgfältig verborgen; vor der Flucht brachte sie es in ihren Haaren unter; sowie sie glaubte, daß ihre Gefährtinnen sich zu Bette begeben hätten, eilte sie in ihr Gemach. Hier öffnete sie das Loch, welches sie täglich sorgfältig verstopft hatte, band das Seil an einen Gitterstab, der unbeschädigt war, ließ sich herabgleiten und hatte bald den Boden unter den Füßen. Doch war dies bloß der kleinste Teil des Hindernisses gewesen; die sechs Heckenwälle, von denen Omphale erzählt hatte, bereiteten ihr ganz andere Schwierigkeiten.

Als sie unten angelangt war, erkannte sie, daß jeder Raum zwischen 2 Hecken nur sechs Fuß breit war; und diese geringe Breite konnte im ersten Moment den Glauben erwecken, daß man nur eine einzige zusammenhängende Gesträuchmasse vor sich habe. Die Nacht war sehr finster. Indem sie die erste Allee zwischen den Hecken durchschritt, gelangte sie zum Fenster des großen Kellers, wo die Todesorgien abgehalten wurden. Sie bemerkte daselbst viel Licht und war kühn genug, sich zu nähern; und da vernahm sie ganz deutlich, wie Jérome also zur Versammlung sprach: »Ja, meine Freunde, ich wiederhole es, Justine muß jetzt als nächste an die Reihe kommen; ich hoffe. kein einziger wird sich meinem Vorschlag widersetzen.« – »Gewiß nicht,« entgegnete Antonis, »mit Severino befreundet, habe ich sie bis jetzt bevorzugt und[266] protegiert, weil sie diesem ehrenwerten Gefährten unserer Ausschweifungen gefallen hat; da wir aber jetzt keinen weiteren Grund dazu haben, so bin ich der erste, der Euch bittet, diesen Vorschlag ohne Widerspruch anzunehmen.« – Es herrschte Einmütigkeit; einige waren sogar der Ansicht, man solle sie sofort herbeischaffen; aber nach reiflicher Erwägung entschloß man sich, die Sache auf zwei Wochen zu verschieben. O Justine! welche Bewegung bemächtigte sich deiner Seele, als du also dein Todesurteil vernahmst! Unglückliches Mädchen! Fast hättest du dich nicht von der Stelle rühren können. Nichtsdestoweniger raffte sie alle ihre Kräfte zusammen. beeilte sich und ging rund herum; da sie aber keine Bresche wahrnahm, beschloß sie, eine solche zu schlagen.

Sie hatte die oben erwähnte Scheere bei sich, mit der sie nun arbeitet; ihre Hände werden zerrissen, doch hält sie das nicht zurück. Die Hecke war mehr als zwei Fuß breit; doch bahnt sie sich den Weg zur zweiten Allee. Welche Bestürzung aber bemächtigt sich ihrer, als sie unter ihren Füßen einen weichen und nachgiebigen Boden fühlt, in welchen sie bis zu den Knöcheln versinkt! Je mehr sie vorwärtsgeht, desto dichter wird die Finsternis. Voll Neugier über die Ursache dieser Aenderung der Erdbeschaffenheit, tastet sie ... Gerechter Himmel! sie spürt den Kopf eines Leichnams. »Großer Gott!« ruft sie vernichtet, »so bin ich zweifellos, wie man mir gesagt hatte, im Friedhof, wohin die Henkergesellen ihre Opfer werfen; kaum nehmen sie sich die Mühe, sie mit Erde zu bedecken. Dieser Schädel gehört vielleicht meiner teueren Omphale oder der unglücklichen Octavie; sie war so schön, so sanft, so gut, so lieblich wie eine Rose. Ach! Zwei Wochen später hätte auch mich dieser Platz erwartet; daran ist kein Zweifel, soeben habe ich es vernommen. Was würde es mir nützen, wenn ich neuen Schicksalsschlägen entgegenginge? Habe ich nicht genug Böses begangen? Bin ich nicht die Veranlassung einer ziemlich großen Zahl von Verbrechen geworden? Ach! Möge sich mein Geschick erfüllen! ... Du Zufluchtsort meiner Freundinnen, öffne dich auch für mich! Das tut gut, wenn mann so arm und verlassen ist wie ich. Aber nein, ich muß die wehrlose Tugend rächen; sie rechnet auf meinen Mut, lassen wir uns nicht niederdrücken, gehen wir vorwärts! Es tut not, daß die Welt von solch gefährlichen Missetätern befreit werde. Soll ich schwanken, sechs Menschen zu verderben, um tausende von Personen zu retten, die ihre Grausamkeit hinschlachtet?« Sie durchbricht die Hecke, die dichter ist als die erste; je mehr sie vorwärts schreitet, desto undurchdringlicher findet sie das Gesträuche. Dennoch bricht sie die Breschen,[267] jenseits deren sie wieder festen Boden fühlt; unsere Heldin gelangt an den Rand des Grabens, ohne die Mauer zu finden, von der ihr Omphade erzählt hätte; sicherlich war keine solche vorhanden; wahrscheinlich hatten die Mönche jene damit nur abschrecken wollen.

Weniger eingeengt jenseits dieser sechsfachen Umwallung, unterscheidet Justine die Gegenstände besser. Die Kirche und das sich daran anschließende Gebäude bieten sich alsogleich ihren Blicken dar; der Graben zog sich längs beider hin. Sie hütet sich wohl, ihn auf dieser Seite zu überschreiten; sie geht den Rändern entlang weiter; sowie sie sich einem Waldwege gegenüber sieht, entschließt sie sich, den Graben an dieser Stelle zu überschreiten und jenen Weg einzuschlagen, sowie sie die Böschung emporgeklommen ist. Dieser Graben war sehr tief, aber trocken; da er mit Steinen bedeckt war, konnte sie sich nicht herabgleiten lassen, sie stürzte sich also hinein. Ein wenig betäubt von dem Fall, vergehen einige Minuten, bevor sie sich wieder erheben kann; endlich richtet sie sich wieder auf und durchquert den Graben, ohne auf Hindernisse zu stoßen; aber wie hinaufkommen? Indem sie eine bequeme Stelle sucht, findet sie einen, wo einige zerbrochenen Mauersteine ihr die Möglichkeit gaben, sowohl sich der anderen Steine als Stufen zu bedienen, als auch die Fußspitzen in die Erde einzubohren, um sich besser stützen zu können. Sie befand sich schon fast oben, als alles unter ihr einbrach und sie wieder in den Graben fiel, bedeckt mit Trümmern, die sie im Falle mitgerissen hatte; sie glaubte schon, sterben zu müssen. Denn dieser Sturz war, da er nicht freiwillig stattgefunden hatte, viel unsanfter gewesen als der erste; die Steine, die ihr gefolgt waren, hatten sie sogar an mehreren Körperstellen verletzt; sie war tüchtig mitgenommen worden. »Ach Gott!« sagte sie voll Verzweiflung, »ich gehe nicht weiter, ich bleibe da; dieses Mißgeschick ist ein Fingerzeig des Himmels, er will nicht, daß ich weiter gehe. Meine Gedanken täuschen mich sicherlich; das Böse ist notwendig auf Erden; wenn Gott es wünscht, so ist es gewiß ein Unrecht entgegenzusteuern.«

Aber die kluge, tugendhafte Justine schüttelt rasch diesen Gedanken. Die unglückselige Frucht der sie umgebenden Verderbnis, ab und entledigt

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Veröffentlicht / Quelle: 
Marquis de Sade: Die Geschichte der Justine. 1906
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