Justine oder vom Missgeschick der Tugend - Page 117

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zwei Kaufleute zu Pferde zu empfangen, die von ebensoviel reich beladenen Maultieren gefolgt waren; sie wollten auf den Markt von Dole und wünschten in dieser Mördergrube zu übernachten.

Unsere Reisenden wurden freundschaftlichst empfangen, bedient, erfrischt und von ihren Schuhen befreit; als d'Esterval bemerkte, daß sie ganz ruhig auf das Souper[273] warteten, kam er zu Justine zurück, um die Instruktion zu beendigen. Der merkwürdige Mensch sagte:

»Es ist nicht notwendig, Ihnen, mein teueres Kind, zu sagen, daß ich mit dem Geschmack, von dem ich Ihnen eben erzählte, auch andere Eigenarten verbinde; folgende sind es, die erstaunlicherweise meine Leidenschaften befriedigen.

Ich will, daß die Reisenden, die unter meinen Händen sterben, von meinen Plänen Nachricht erhalten; es gefällt mir, ihnen die Gewißheit beizubringen, daß sie im Hause eines Ruchlosen sind; ich will, daß sie sich in Verteidigungszustand versetzen, kurz, es ist mir darum zu tun, sie durch Gewalt niederzuzwingen. Dieser Umstand versetzt mich in Erregung, kurz ermöglicht mir die Erektion, so daß ich unbedingt eines Geschöpfes zum Ficken bedarf, mag es welchem Alter und welchem Geschlecht immer angehören. Folgende Rolle ist Ihnen, mein Engel, zugeteilt: Sie werden mit bestem Gewissen alles in Bewegung setzen, um die Opfer entkommen zu lassen oder sie zur Verteidigung zu bewegen. Ich will Ihnen noch mehr sagen: die Freiheit winkt Ihnen dafür. Wenn Sie einen einzigen entwischen lassen, können Sie sich mit ihm retten; ich versichere feierlich, Sie dann nicht zu verfolgen; aber wenn das Opfer unterliegt, müssen Sie hier bleiben; da Sie tugendhaft sind, habe ich Recht, wenn ich sage, daß Sie herzlich gerne hier bleiben werden; denn die Hoffnung, einen dieser Unglücklichen meiner Wut zu entreißen, wird Sie unaufhörlich hier bannen. Wenn Sie mir davonlaufen, dann betreibe ich gewiß mein Handwerk weiter und Sie würden es stets tief bereuen, keinen Versuch unternommen zu. haben, die zu retten, welche nach Ihrer Abreise zugrunde gehen werden; Sie würden es sich nie verzeihen können, die Gelegenheit zu einem so guten Werk verabsäumt zu haben; wie gesagt, die Hoffnung eines Tages doch Erfolg zu haben, wird Sie notwendigerweise das ganze Leben an uns fesseln. Wollen Sie einwerfen, daß all das nicht nötig sei, daß Sie gleich in den ersten Tagen entweichen würden, um gegen mich Klage zu führen? Wie ungeschickt wäre ich, wenn ich diesen Einwurf nicht beantworten könnte, wenn ich ihn nicht siegreich mit einem Worte niederschlagen könnte. Hören Sie mich an, Justine; es vergeht kein Tag, an dem ich nicht einen Mord begehe; sechs Tage würden vergehen, bevor Sie zum nächsten Gericht kommen; dann aber haben Sie sechs Opfer umkommen lassen, um zu versuchen, mich gefangen nehmen zu lassen; unter der Voraussetzung, daß diese Unmöglichkeit stattfindet (denn ich fliehe sofort, wenn Sie nicht mehr im Hause sind), haben Sie sechs[274] Opfer hinschlachten lassen, um einer lächerlichen Hoffnung nachzujagen.« – »Ich wäre die Ursache ihres Todes?« – »Ja, denn Sie hätten eines der Opfer retten können, wenn Sie es gewarnt hätten; wenn Sie aber das eine retten, retten Sie auch die anderen. Nun also, Justine, hatte ich Unrecht zu sagen, daß ich Sie durch List festhalten werde? Fliehen Sie jetzt, wenn Sie es wagen, fliehen Sie, alle Türen sind offen!« – »Mein Herr!« sagte Justine niedergeschlagen, »in welche Situation versetzen Sie mich durch Ihre Bosheit!« – »Ich weiß wohl, sie ist schrecklich; gerade das regt meine abscheulichen Leidenschaften mächtig an. Es gefällt mir, daß Sie an den Ruchlosigkeiten teilnehmen müssen, ohne daß Sie sie verhindern könnten; ich freue mich, Sie durch die Tugend an das Verbrechen und den Frevel zu fesseln; und wenn ich, Justine, mit Ihnen ficken werde (denn Sie werden es begreiflich finden, daß es dazu kommen wird), wird dieser köstliche Gedanke mich wundervoll entladen machen.« – »Wie, mein Herr, ich werde mich dem fügen müssen?« – »Gewiß, Justine, allem; wenn Sie geschickt genug sind, den Opfern das Entwischen zu ermöglichen, so ist damit alles gesagt, da Sie zusammen mit jenen fliehen werden. Aber wenn sie unterliegen, werden sich Ihre Hände mit dem Blute jener färben; Sie werden sie mit mir bestehlen, umbringen, ausplündern; dann werden Sie sich nackt auf die blutigen Leichname legen und ich werde Sie bearbeiten. Wieviel Gründe haben Sie nicht, jene zu retten! Welche Ränke, welche Geschicklichkeit werden Sie, von der Tugend und ihrem Vorteil getrieben, anwenden, um sie meinen Dolchen zu entreißen! O Justine! Nie werden sich die hehren Tugenden, zu denen Sie sich bekennen, in einem schöneren Lichte zeigen, nie wird sich Ihnen eine günstigere Gelegenheit bieten, sich der Achtung und Bewunderung der guten Menschen würdig zu erweisen.«

Es ist sehr schwer, die Situation zu beschreiben, in der sich unsere Heldin befand, als d'Esterval wegging, um seinen Pflichten obzuliegen, und sie einen Augenblick all ihren schrecklichen Gedanken überließ:

»Großer Gott!« rief sie aus, »ich war der Meinung, daß der Frevel alle seine Mittel gegen mich in Anwendung gebracht habe und daß nach all meinen Erfahrungen mir neue Empfindungen dieser Art erspart bleiben würde. Ich habe mich getäuscht. Ich erlebe beispiellose Tücken, Grausamkeiten und Ausschweifungen, die sicherlich selbst dem Busen der Hölle fremd sind. Dieses Scheusal hat Recht: wenn ich mich sofort retten und ihn festnehmen lassen will, vergeht sicherlich einige Zeit; vielleicht kann ich ihm aber gleich heute abends die beiden Reisenden, die eben[275] angekommen sind, entreißen. – Aber wenn ich in einem oder zwei Jahren bemerke, daß ich niemals ein Opfer retten kann, täte ich nicht besser daran, den Schurken anzuzeigen? – Ach, niemals, niemals; er hat gesagt, er werde sofort fliehen, wenn er mich frei sehen werde; er würde vor der Flucht alle bei ihm befindlichen Fremden massakrieren, vielleicht gerade solche, denen ich hätte das Leben retten können. Das Scheusal hat Recht, durch List bezwingt er mich. Wäre ich nicht so klug, ich hätte mich gleich entfernt; wegen meiner Tugend werde ich verbrecherisch. Gott, darfst du es zugeben, daß das Gute soviel Böses verursacht? Zeigt es von Gerechtigkeit, wenn du duldest, daß die Tugend Unheil bewirkt? Wie entmutigend wird die Geschichte meines Lebens auf alle Seelen wirken, wenn sie je bekannt werden sollte! O du, der du sie eines Tages erfahren solltest, veröffentliche sie

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Veröffentlicht / Quelle: 
Marquis de Sade: Die Geschichte der Justine. 1906
Prosa in Kategorie: 
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