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anderer erworbene Glück nicht vollkommen sei? Toren! ... gerade darin ist es vollkommen, weil es angemaßt ist; es besäße keine Reize, wenn es geschenkt würde. Man muß es[283] gewaltsam rauben; es muß den, welchem man es raubt, Tränen kosten, denn gerade aus der Gewißheit, daß man anderen Schmerz verursacht, entspringt der süßeste Genuß.« – »Aber das ist ja verbrecherisch!« – »Ganz und gar nicht; es handelt sich nur um das sehr einfache und natürliche Verlangen, sich ein möglichst großes Quantum Glück anzulegen.« – »Ich stimme bei, wenn es nicht auf Kosten der anderen geschieht.« – »Das wäre aber ein schlechter Genuß, wenn ich die andern für ebenso glücklich halten müßte wie mich; um mein Glück zu vervollkommnen, muß mich alles auf der Welt glücklich schätzen, während alle andern leiden; es gibt kein organisiertes Wesen, das nicht fühlt, wie süß es ist, Vorrechte zu haben. Solange ich nur im allgemeinen Glück teilhabe, bin ich nur wie alle Welt; wenn ich aber alles in mir vereinen kann, bin ich unbestreitbar glücklicher als die anderen. Wenn zum Beispiel in einer Gesellschaft von zehn Personen das Glück sich zu gleicher Weise verteilt, dann kann sich keiner schmeicheln, glücklicher zu sein als der andere; wenn dagegen einer aus dieser Gesellschaft den neun anderen das Glück zu rauben und sich zuzuschanzen versteht, dann ist er sicherlich wahrhaft glücklich; denn er kann nun Vergleiche anstellen, was ihm vorher unmöglich war. Das Glück hängt nicht von dem oder jenem Seelenzustand ab; es besteht nur im Vergleich des eigenen Zustandes, mit dem des anderen; wie kann man aber Vergleiche anstellen, wenn alle einander ähneln? Wenn alle Leute ein gleiches Vermögen besäßen, könnte ich dann jemand reich nennen?« – »Ich werde nie diese Art, glücklich zu sein, verstehen, ich glaube es nur dann sein zu können, wenn ich wüßte, daß alle anderen es auch sind.« – »Das rührt von deiner Schwäche her; denn du hast nur kleine Wünsche, schwache Leidenschaften, geringe Wollustgefühle.« Aber diese mittelmäßige Denkweise kann nie bei einem so gearteten Wesen, wie ich es bin, Anklang finden; wenn mein Glück nur mit dem Unglück der andern zusammen bestehen kann, so ist dies deshalb der Fall, weil ich in diesem Unglück das einzige Reizmittel erblicke, das meine Nerven stark anregt und das, entsprechend der Heftigkeit der Erschütterung, die Nerven mit größerer Gewißheit in den Zustand der Wollust versetzt.20[284]
Im allgemeinen entspringen alle menschlichen Irrtümer den falschen Begriffen, die sie sich vom Glücke machen. Was man so nennt, ist nicht ein Zustand, der gleicherweise allen Menschen zusagen kann, sondern ist individuell verschieden, je nach der Art der Organisation. Das ist richtig, denn der Reichtum und die Wollust, die das Glück im allgemeinen zu begründen scheinen, finden bei manchen keinen Anklang; die Schmerzen dagegen und die Melancholie, daß Mißgeschick und der Kummer, die aller Welt zu mißfallen scheinen, haben dennoch ihre Anhänger. Wenn man aber diese Behauptung für recht findet, bleibt dem, der sich über die Sonderbarkeit des Geschmackes in einen Streit einlassen will, keine Waffe; wenn er vernünftig ist, bleibt ihm nichts übrig, als zu schweigen. »Ludwig XI. fand sein Glück in den Tränen, die er den Franzosen verursachte, Titus in den Wohltaten, mit denen er die Römer überhäufte. Woraufhin wollen Sie, daß ich den einen dem andern vorziehe? Hatten nicht beide Recht? Waren nicht beide gerecht?« – »Gewiß nicht; die Gerechtigkeit äußert sich nur dadurch, daß sie Gutes tut.« – »Aber was bezeichnest du als das Gute? Ich bitte dich, beweise mir, daß es besser ist, einem Menschen hundert Louis zu geben als sie ihm zu rauben. Wie komme ich dazu, das Glück der anderen zu machen? Wodurch kannst du mich überzeugen (Vorurteile haben keine Beweiskraft), daß ich besser[285] bin, wenn ich es tue als wenn nicht? Jedes System einer allgemein giltigen Moral ist ein richtiges Hirngespinst; es gibt außer der relativen Moral keine wahre Moral, die auf uns Einfluß üben könnte. Die Verbrechen ergötzen mich, daher fröhne ich ihnen; ich schaudere vor der Tugend, daher fliehe ich sie; ich würde sie vielleicht lieben, wenn ich von ihr irgend einen Genuß verspürt hätte. Justine, werde lasterhaft wie ich! Die Göttin, der du dienst, ist undankbar; sie wird dich nie für die Opfer, die sie fordert, entschädigen; wenn du ihr dienst, wirst du nie belohnt werden.« – »Aber würden die Menschen das, was Sie tun, bestrafen, wenn es gut wäre?« – »Die Menschen strafen das, was ihnen schadet; sie zertreten die Schlange, die sie sticht, ohne daß man daraus das geringste Argument gegen die Existenz dieses Reptils schöpfen könnte. Die Gesetze sind egoistisch, wir müssen es auch sein; sie dienen der Gesellschaft; aber die Interessen der letzteren sind nicht die unserigen; und wenn wir unsere Leidenschaften befriedigen, so tun wir das einzeln, was jene im Masse tun; nur die Resultate sind verschieden.«
Manchmal mengte sich d'Esterval in derartige Gespräche; dann nahmen sie einen imponierenden Charakter an. Unmoralisch aus Grundsatz und durch sein Temperament, Atheist aus Liebhaberei und durch Philosophie, bekämpfte d'Esterval alle Vorurteile und ließ der unglücklichen Justine keine Möglichkeit der Verteidigung. Als diese ihm gelegentlich seine täglichen Mordtaten vorwarf, sagte er: »Mein Kind, der Wechsel ist das Wesen der Welt; doch kann es keinen Wechsel ohne Zerstörung geben; also ist diese nötig für die Naturgesetze; demnach fördert derjenige, der am meisten zerstört – da er den größten Wechsel in der Materie verursacht – am besten die Naturgesetze. Diese Mutter aller Menschen hat ihnen ein gleiches Recht auf alles verliehen. In der natürlichen Ordnung der Dinge ist es jedem erlaubt, alles, was ihm gut dünkt, mit wem immer zu tun; jeder kann besitzen, sich dienstbar machen, genießen, was immer er gut findet. Der Nutzen ist die Richtschnur des Rechtes. Es genügt, daß ein Mensch eine Sache begehrt, um festzustellen, daß er ihrer bedarf; wenn aber etwas jemandem nötig oder auch nur angenehm ist, hat er ein Recht darauf. Die einzige Strafe, die wir für eine solche Handlung verdienen, besteht darin, daß es einem andern gestattet ist. gegen uns ebenso vorzugehen. Die Berechtigung oder Nichtberechtigung einer Handlung,« sagt Hobbes, »hängt nur von dem