Justine oder vom Missgeschick der Tugend - Page 124

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alles zu sagen ...«

»Schweigen Sie«, Justine, »ich will mich von diesem Herrn unterrichten lassen, von seinem Berichte werden meine weiteren Verhaltungsmaßregeln Ihnen gegenüber abhängen. Gehen Sie hinaus!« Justine zog sich bestürzt zurück; Herr de Bressac fuhr fort – wie leicht einzusehen – sie in den Augen seiner Verwandten zu beschuldigen. Nach Verlauf einer Stunde wird Justine zurückgerufen und beauftragt, den Fremden, in das verhängnisvolle Zimmer zu führen. Sie gehorcht, aber ohne jede weitere Erklärung begibt sie sich zu ihrem Herrn. – »Mein Herr,« sagt sie hastig, »wie soll ich mich gegen Herrn de Bressac betragen? ... Da er Ihr Verwandter ist, ohne Zweifel ...« –»Justine,« antwortet Sombreville, den wir aber auch weiterhin d'Esterval nennen wollen, »es ist erstaunlich, daß nach all den Beweisen von Güte,[291] nach all den Rücksichten, die meine Frau und ich Ihnen unaufhörlich zuteil werden lassen, Sie einen Umstand Ihres Lebens verbergen konnten, der Sie in den Augen der Alltagsmenschen so schuldig macht. Da Sie unsere philosophischen Ansichten in solchen Dummheiten kennen, hätten Sie – wie mir scheint – sich ein wenig freimütiger zeigen können.« – »Oh, mein Herr, ich schwöre Ihnen,« antwortete Justine mit der edlen Unbefangenheit, die die Tugend verleiht, »ich erkläre feierlichst, ich bin unschuldig an dem Verbrechen, dessen mich Herr de Bressac anklagt. Er soll den Mörder seiner Mutter nicht so weit suchen, er weiß nur zu gut, wo er ist.« – »Wie? Erklären Sie sich, Justine!« sagte Frau d'Esterval. – »Er selbst, Madame, er selbst hat diese Missetat begangen und der Frevler klagt mich an!« – »Sind Sie dessen sicher, was Sie da sagen?« – »Ich kann daran nicht zweifeln; ich will Ihnen, wenn Sie es wünschen, alle Einzelheiten dieser Ruchlosigkeit enthüllen.« – »Ich habe jetzt keine Zeit, Sie anzuhören,« sagte d'Esterval. Dann wandte er sich an seine Frau: »Wozu entschließest du dich, Dorothéa?« – »Nur ungern,« antwortete das Scheusal, »verurteile ich ein Wesen, das ebenso frevelhaft ist, wie wir, zum Tode; aber dieser schöne Mann erregt meine Wollust außerordentlich, ich will durchaus, daß sie befriedigt werde.« – »Gut!« sagte d'Esterval. »Justine, keine weiteren Auseinandersetzungen mit ihm, sondern erfüllen Sie Ihre gewöhnliche Mission. Uebrigens fürchten Sie nichts, selbst wenn Sie das Verbrechen, dessen er Sie anklagt, wirklich begangen haben, würden wir Sie nicht geringer schätzen; im Gegenteil, das wäre ein Ehrentitel in unseren Herzen. Erröten Sie nicht, es zuzugeben.« – »Glauben Sie mir, ich würde, durch eine solche Rede ermutigt, alles gestehen, wenn ich schuldig wäre; aber ich bin an dem Verbrechen unschuldig, ich beschwöre es feierlichst.« – »Schon gut, gehen Sie nur hinauf, mein Kind, und führen Sie sich wie gewöhnlich auf; denken Sie daran, daß ich Ihnen auf Schritt und Tritt folge.«

Unsere Heldin war in großer Verlegenheit; welche Freude hätte sie empfunden, wäre sie rachsüchtig gewesen! Wir wissen genau, daß der Tod ihres Verleumders sicher war, ob sie ihn nun warnte oder nicht, aber gerade wegen dieser Gewißheit fielen Justine nur Mittel ein, die sie anwendete, um dem das Leben zu retten, der so grausam nach dem ihren getrachtet hatte. Sie beeilte sich, sie wußte, daß sie einen Augenblick Zeit hatte, mit dem Marquis zu sprechen, bevor d'Esterval lauschte. »Mein Herr,« sagte sie ihm weinend, »trotz allem, was Sie mir zugefügt haben, will ich Sie retten, wenn ich es vermag. Bleiben Sie keinen Moment in diesem Zimmer, das allenthalben mit Falltüren versehen ist. Versuchen Sie, seine Raserei zu dämpfen, besonders aber, die Megäre zu besänftigen; besessener wie ihr Gatte, hat sie Ihr Todesurteil gesprochen. Schnell, Herr, gehen Sie hinunter; nehmen Sie Ihre Pistolen mit; in zwei Sekunden wird es schon zu spät sein!«[292]

Bressac, der im Grunde seiner Seele gezwungen war, die Sprecherin hinreichend zu achten, um ihren Worten das größte Vertrauen zu schenken, stürzt hinaus und begegnet d'Esterval auf der Treppe. »Gehen wir hinunter, Herr, ich muß Sie sprechen,« sagt er zu ihm mit fester Stimme. – »Aber, mein Herr ...« – »Gehen wir hinab, sage ich Ihnen!« Mit diesen Worten stößt er ihn in den Salon und sperrt die Tür hinter sich ab, indem er Justine, die ihm folgen will, hinausschiebt. Das Gespräch wurde zweifellos sehr heftig geführt; wir kennen nicht die Einzelheiten, aber das Ergebnis war, daß Bressac, der sich seinem Verwandten zweifellos zu erkennen gab, ihm rasch die Ueberzeugung beibrachte, daß die Frevler untereinander sich nichts Böses zufügen dürften; Dorothéa wurde durch die Artigkeiten und die Verführungskünste des Marquis beruhigt; endlich wurde beschlossen, alle sollten zum Onkel des Bressac sich begeben. »Dieser Onkel ist ein Berufswüstling,« sagte Bressac, »er ist auch Ihr Verwandter, da wir Vettern sind; gehen wir zu ihm, ich stelle Ihnen göttliche Genüsse in Aussicht.« – Nachdem man diesen Entschluß gefaßt hatte, soupierte man gemeinsam. Auch Justine wurde zugelassen. »Umarme mich,« sagte Bressac, ich will dich in den Augen meiner Verwandten wieder zu Ehren bringen ... Mein Freund, da du ebenso frevelhaft bist wie ich, fürchte ich nicht, dir zu gestehen, daß ich allein das Verbrechen begangen habe, dessen ich vorher dieses Mädchen anklagte; die Unglückliche wäre dazu unfähig. Sie soll an der Reise teilnehmen. Mein Onkel hat mich beauftragt, ihm eine Kammerfrau ausfindig zu machen; er wünscht ein zuverlässiges Mädchen an der Seite seiner Gattin zu haben. Ich vermute, daß niemand ihm dazu so geeignet erscheinen kann wie Justine, wie die Sache liegt. Der Platz, den ich ihr verschaffe, ist gut; wenn sie das Vertrauen meines Onkels gewinnt, kann sie die Chimäre vom Glück, dem sie seit so langer Zeit nachläuft, endlich realisieren ... Oh, Justine, nimm dieses Zeichen meiner Dankbarkeit an. Mögen Einigkeit, Friede und Ruhe unter uns herrschen. Erklären Sie sich einverstanden, Vetter? »Ueberlassen Sie mir Justine?« – »Oh, ganz gern,« antwortete d'Esterval, »ich begann schon, ihrer müde zu werden; die Folgen meines Ueberdrusses aber hätten für sie verhängnisvoll werden können.« – »Das glaube ich,« sagte Bressac; »ich bin dir darin ähnlich, mein Lieber; wenn ein Gegenstand meine Geilheit gestillt hat, möchte ich ihn zum Teufel schicken.« – »Sie haben sich doch an Justine nicht ergötzt« fragte Dorothéa. – »Nein, Madame, ich kenne nur Sie auf der ganzen Welt, die mich

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Veröffentlicht / Quelle: 
Marquis de Sade: Die Geschichte der Justine. 1906
Prosa in Kategorie: 
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