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sich mutig der Trümmer, mit denen sie bedeckt ist; da sie es nunmehr leichter findet, durch die infolge der neu entstandenen Löcher gebildete Bresche in die Höhe zu steigen, unternimmt sie nochmals den Versuch und sieht sich sofort in der Höhe. All das habe sie von dem wahrgenommenen Pfade abgeführt; aber umherschauend wird sie seiner[268] wieder gewahr und nunmehr macht sie sich eilig daran, zu fliehen. Vor Tagesanbruch befindet sie sich schon außerhalb des Waldes und bald auf dem Hügel, von welchem aus sie einstens das ruchlose Haus erblickt hatte, aus dem sie mit solcher Freude entwichen war. Sie ruht auf ihm aus, in Schweiß gebadet; ihre erste Sorge ist, sich niederzuknien, um Gott zu danken und neuerlich seine Verzeihung zu erflehen für die Vergehen, die sie unfreiwillig in dieser haßenswerten Stätte der Ruchlosigkeit und des Verbrechens begangen hatte. Bald entstömten bittere Zähren ihren schönen Augen. »Ach!« sagte sie zu sich, »ich war weit schuldloser, als ich im vergangenen Jahre diesen selben Weg einschlug, geleitet von frommen Gedanken, die so traurig getäuscht wurden. O Gott! In welchem Zustande sehe ich mich jetzt!«
Diese traurige Betrachtungen wurden einigermaßen gemildert durch den Gedanken, frei zu sein; Justine nahm ihren Weg gen Dijon, da sie der Meinung war, daß nur in dieser Stadt ihre Klagen mit Erfolg vorgebracht werden könnten.
Sie befand sich auf der zweiten Tagesreise; sie hatte keine Angst vor Verfolgung, doch war ihr Kopf noch ganz wüst von all den Schrecken, deren Zeugin und Opfer sie soeben gewesen war. Es war warm; ihrer sparsamen Art gemäß war sie von der Landstraße abseits gegangen, um eine Stätte zu finden, wo sie ein leichtes Mahl einnehmen und bis abends warten konnte. Ein kleines Gehölz rechts vom Wege, durch das sich ein klares Bächlein schlängelte, schien ihr geeignet zu sein. Erfrischt von dem Wasser, ein wenig Brot zu sich nehmend, den Rücken an einen Baum lehnend, atmete sie die reine Luft ein, die sie wieder belebte und ihre aufgeregten Sinne beruhigte. Sie dachte an ihr beispielloses Geschick, das sie trotz der Dornen, mit denen ihre tugendhafte Bahn bestreut gewesen war, immer und immer wieder zu der Verehrung Gottes, zu Handlungen der Liebe und Ergebung gegen das höchste Wesen, dessen Ebenbild sie war, geführt hatte; eine Art Verzückung bemächtigt sich plötzlich ihrer Seele. »Ach!« sagte sie zu sich, »läßt er mich nicht im Stiche, dieser gute Gott, den ich anbete? Danke ich nicht ihm die Gunst, meine Kräfte wieder sammeln zu können? Gibt es denn nicht Wesen auf der Erde, denen das nicht vergönnt ist? Ich bin doch nicht ganz unglücklich, da es viel beklagenswertere Geschöpfe als mich gibt. Ach! bin ich nicht viel glücklicher als die Unseligen, die in dieser Lasterhöhle zurückgeblieben sind, der mich die Güte Gottes wie durch ein Wunder hat entkommen lassen?« Von Dankbarkeit erfüllt, wirft sie sich auf die Knie, um dem Höchsten zu[269] danken, als sie bemerkte, daß sie durch ihr Gebaren die Blicke einer großen, schönen, ziemlich gut gebauten Frau anzog, die in derselben Richtung daherkam wie sie. »Mein Kind,« sagte ihr freundlich diese Frau, »Sie scheinen tief versunken zu sein. Von Ihrem Gesichte kann man leicht ablesen, daß ein tiefes Leid Sie bedrückt ... Auch ich, liebe Kleine, bin unglücklich; würdigen Sie mich, mir Ihre Schmerzen anzuvertrauen; ich werde Ihnen die meinigen mitteilen. Wir wollen uns zusammen trösten; vielleicht wird diesem gegenseitigen Vertrauen das süße Gefühl der Freundschaft entspringen, das den Unglücklichsten ihre Leiden erträglich macht, da sie sie brüderlich teilen. Sie sind jung und hübsch, mein liebes Kind, das ist viel mehr, als nötig ist, um recht viel Dornen auf dem Lebenspfade zu finden. Die Menschen sind so böse, daß man nur etwas, das ihr Interesse erregen kann, haben muß, um ihre ganze Ruchlosigkeit mächtig zu erregen.«
Die Seele der Unglücklichen ist den Tröstungen sehr zugänglich. Justine betrachtet die Fragerin; da sie ein schönes Gesicht, das auf höchstens sechsunddreißig Jahre weist, geistvolles und sittsames Wesen bemerkt, ergreift sie ihre Hand, vergießt Tränen und sagt: »Ach, meine teuere Dame!« – »Kommen Sie, mein Engel!« antwortet ihr freundlich Madame Esterval; »gehen wir in dieses Gasthaus; ich kenne es, wir können uns ruhig dorthin begeben. Dort können Sie mir Ihr Unglück erzählen, ich werde desgleichen tun; vielleicht wird das Ergebnis dieses süßen Vertrauens unser Unglück uns weniger fühlen lassen.«
Justine läßt sich überreden. Sie treten in die Herberge ein; Madame Esterval sorgt für alles; ein ausgezeichnetes Diner wird sogleich in einem abgesonderten Zimmer aufgetragen, worauf die Konversation intimer wird.
»Mein teueres Kind,« sagt sie, nachdem sie, wie es scheint, einige Tränen über das Unglück ihrer Gefährtin vergossen hat, »mein Mißgeschick ist vielleicht nicht so mannigfacher Art wie das Ihre, dafür aber beständiger, und ich wage es zu sagen, bitterer. Seit früher Jugend einem Manne, den ich verabscheue, preisgegeben, habe ich seit zwanzig Jahren den hassenswerten Mann vor Augen; seit dieser traurigen Zeit bin ich grausam beraubt des einzigen Wesens, das das Glück meines Lebens hätte machen können. Längs der Grenzen von Burgund und der Franche-Comté ist ein großer Wald, inmitten dessen mein Mann eine Herberge besitzt, ziemlich bequem für diejenigen aufzusuchen, die diese unbekannte Gegend durchstreifen; aber, gerechter Himmel, soll ich es Ihnen gestehen, meine Teuere, dieser Elende mißbraucht die Abgelegenheit dieser[270] finsteren Stätte und bestiehlt, beraubt, ermordet alle die, welche das Unglück haben, sich bei ihm aufzuhalten.« – »Sie machen mich erbeben, Madame; großer Gott, dieses Scheusal mordet?« – »Teures Kind, erbarme dich meiner Schande und meines Unglücks; ich würde selbst ermordet werden, wenn ich seine Taten verriete; könnte ich übrigens versuchen, Klage zu führen? ... ich entehre mich selbst, wenn ich meinen Mann der Schande preisgebe. Oh, Justine, ich bin die Unglücklichste der Frauen! Einzig das würde mich trösten, wenn ich ein tugendhaftes Wesen gleich dir an mein Los knüpfen könnte, mit dessen Hilfe ich dem rasenden Scheusal den größten Teil seiner Opfer zu entreißen vermöchte. Wie nötig wäre mir ein solches Weib! Sie wäre die Freude meines Daseins, der Schirm meines Gewissens, meine Stütze, meine Hilfe in dem schrecklichen Zustande, in dem ich lebe ... Liebenswürdiges Kind, wenn ich dir