Justine oder vom Missgeschick der Tugend - Page 130

Seiten

die arme Frau, die die Motive der vorgeschützten Härte Justinens noch nicht erraten hatte, »ich bitte Sie nur um Ihre Mühewaltung.« – »Daran soll es nicht fehlen,« sagte das neue Kammermädchen, »darüber hinaus aber gehe ich nicht.« Der entzückte Graf drückte Justinens Hand. »Ausgezeichnet,« sagte er leise zu ihr, »halte Wort und dein Glück ist gemacht.« – Er zeigte ihr dann ihr Gemach, das sich an das seiner Gemalin anschloß; zugleich machte er sie darauf aufmerksam, daß dieses Zimmer, durch treffliche Türen abgeschlossen und an allen Ausgängen mit doppeltem Gitter versehen, keine Aussicht auf Flucht eröffnete. »Hier ist wohl eine Terrasse,« fuhr Gernande fort, Justine in einen kleinen Blumengarten geleitend, der sich in gleicher Flucht mit dem erwähnten Gemach befand, »aber sie liegt hoch genug, denke ich, um Ihnen die Lust zu nehmen, sich an der Mauer herabzulassen. Die Gräfin kann hier ganz nach Belieben frische Luft schöpfen; doch ist das die einzige Zerstreuung, die meine Strenge zuläßt. Sie werden sie nicht verlassen, wenn sie hieher kommt. Sie müssen ihr ganzes Tun und Lassen beobachten und mir darüber getreulich berichten. Adieu!«

Justine begab sich zu ihrer Herrin; diesen Augenblick nun, da sie sich betrachten und prüfen, wollen wir dazu benützen, in unserem Leser eine Vorstellung von dieser interessanten Frau zu erwecken.
XIV. Kapitel.
Die Vorgänge im Schlosse. – Dissertation über die Frauen.

Frau de Gernande zählte neunzehneinhalb Jahre und besaß die denkbar schönste, edelste, wohlgeformteste Gestalt; jede ihrer Gesten und Bewegungen atmete Grazie, jeder ihrer Blicke zeugte von Seele. Ihre Augen waren vom schönsten Schwarz, obwohl sie blond war, und höchst ausdrucksvoll, doch eine Art Wehmut, die Folge ihres Mißgeschickes, machte sie noch tausendmal interessanter. Sie besaß einen ganz weißen Teint, wundervolle Haare, einen recht kleinen Mund, Perlenzähne und Lippen von einer Röte, daß man hätte sagen können, Amor habe sie mit Farben geschmückt, die er der Blumengöttin[305] entliehen habe. Sie besaß eine schmale, feine Adlernase, darüber Augenbrauen, schwarz wie Ebenholz; ihr Kinn war vollendet schön; kurz, ihr schön ovales Gesicht, das von Anmut, Naivität und Unbefangenheit strahlte, hätte viel eher für das eines Engels als einer Sterblichen gelten können. Ihre Arme, ihr Hals, ihre Hinterbacken waren von einer Pracht, einer Rundung, daß sie Künstlern zum Modell hätte dienen können. Ein leichter, schwarzer Flaum beschattete die hübscheste Scham der Welt, die sich zwischen zwei wohlgeformten Schenkeln zeigte; was aber nach all dem Unglück der Gräfin überraschend wirkte, waren ihre vollen Formen. Ihr Hinterer war ebenso rund, so fest und fleischig, als ob sie von üppigerer Gestalt gewesen wäre. Zwar zeigten sich die furchtbaren Spuren der Grausamkeiten ihres Gatten, doch war sie nicht entstellt; sie bot das Bild der schönen Lilie, auf der die unreine Hornisse einige Flecken hinterlassen hat. Zu so vielen Gaben gesellte sich ein sanfter Charakter, romantisches Gefühl, ein empfindsames Herz. Bildung und Talente; bestrickende Anmut, der nur ihr ruchloser Gemahl widerstehen konnte; einschmeichelnder Klang der Stimme und große Frömmigkeit. So beschaffen war Gernandes Gattin, das engelgleiche Wesen, gegen die er sich verschworen hatte. Es schien, daß sie um so mehr seine Wildheit erregte, je mehr Reize sie entwickelte; alle Gaben, die ihr die Natur verliehen hatte, schienen die Frevelhaftigkeit dieses Scheusals nur zu erhöhen.

»Wann sind Sie zur Ader gelassen worden, Madame?« fragte Justine die Gräfin, sowie sie allein waren. – »Vor drei Tagen,« antwortete diese, »und morgen wird Herr de Gernante sicherlich das reizende Schauspiel dieses Gräuels seinen Freunden vorführen.« – »Tut er das vor Zeugen?« – »Vor solchen, die gleich ihm denken. Ach, Sie werden das alles sehen, Fräulein.« – »Und wird Madame nicht durch alle diese Aderlässe geschwächt?« – »Gerechter Himmel! Ich zähle noch keine zwanzig Jahre und bin überzeugt, daß man mit siebzig nicht schwächer ist. Aber ich hoffe, das wird ein Ende nehmen; es ist vollständig ausgeschlossen, daß ich lange ein solches Leben aushalte. Ich werde zu meinem Vater gehen; ich will in den Armen Gottes die Ruhe suchen, die mir die Menschen so grausam auf Erden verwehrt haben. Ach, was habe ich denn getan, großer Gott, um nicht diese Ruhe genießen zu dürfen! Ich habe nie jemandem den geringsten Schmerz gewünscht, ich liebe meinen Nächsten und ehre die Religion; ich bin von der Tugend begeistert; eine meiner größten Qualen in der schauerlichen Situation, in der man mich hält, ist die, niemandem nützlich sein zu[306] können.« Tränen entströmten ihr bei diesen Worten. Unsere Leser können sich wohl denken, daß die Justinens sich bald mit denen jener verschmolzen hätten, wenn sie nicht großes Interesse daran gehabt hätte, ihren Kummer zu verbergen. Aber sie schwor sich in diesem Augenblicke feierlich, lieber tausend Leben zu opfern, als nicht alles zu tun für eine Frau, deren Gefühle und Geschicke den ihren so ähnlich schienen.

Eben war es an der Stunde, in der die Gräfin dinierte. Die beiden Alten benachrichtigten Justine, sie solle sich mit jener auf ihr Zimmer begeben; denn nicht einmal die Alten durften direkt mit der Gräfin verkehren. Madame de Gernande, an alle die Vorsichtmaßregeln schon gewöhnt, unterwarf sich ihnen ohne weiteres; das Diner wurde aufgetragen, worauf die Gräfin erschien, sich zu Tische setzte und Justine einlud, ihr Gesellschaft zu leisten; ihre Miene war dabei so freundlich, so leutselig, daß sie sich vollends die Zuneigung ihrer Wächterin gewann. Aufgetragen wurden mindestens zwanzig Speisen.

»Was das anbelangt, sorgt man für mich, wie Sie sehen,« sagte Frau de Gernande. – »Ich weiß, Madame, daß der Graf wünscht, Sie mögen sich nichts abgehen lassen.« – »Gewiß; doch da die Gründe dieser Aufmerksamkeiten nur in seiner Grausamkeit gelegen sind, rühren sie mich wenig.«

Madame de Gernande, erschöpft und von der Natur lebhaft zur Erneuerung des Verlorenen angeregt, aß viel; sie verlangte rote Rebhühner und eine junge Ente, die ihr sofort gebracht wurden. Nach dem Mahle begab sie sich auf die Terrasse, Luft zu schöpfen, wobei sie sich auf Justine stützte; ohne diese Hilfe hätte sie keinen Schritt machen können. Jetzt zeigte sie alle ihre Körperteile ihrer neuen Gefährtin. Diese war bestürzt über die erstaunliche Menge von Narben, mit denen diese arme Frau bedeckt war. »Er beschränkt sich nicht auf meine Anne, wie Sie sehen,« sagte Frau

Seiten

Veröffentlicht / Quelle: 
Marquis de Sade: Die Geschichte der Justine. 1906
Prosa in Kategorie: 
Thema / Klassifikation: