Justine oder vom Missgeschick der Tugend - Page 157

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fehlte wenig und die arme Justine hätte sich kopflos ihrer Verzweiflung überlassen. Endlich erwachte der Tag und der erste der ihr zu Gesicht kam, war der Graf selbst. Er war ausgegangen, um kleine Knaben einzufangen, denen er erlaubt hatte, in seinen Park Zweige aufzulesen. Er zerriß gerade die Arschbacken eines dieser Unglücklichen, als seine Augen auf Justine fielen. Er glaubte ein Gespenst zu sehen und zog sich hastig zurück. Jedoch Justine erhob sich zitternd und warf sich zu seinen Füßen. »Was machen[377] Sie da,« fragte der Menschenfresser »Oh, mein Herr, strafen Sie mich, ich bin schuldig,« die Unglückselige, sie hatte vergessen den Brief ihrer Herrin zu zerreißen. Gernande beargwöhnte sie, fand die verhängnisvolle Schrift, überflog sie und befahl Justine ihm nachzufolgen. Sie kehrten durch eine unterirdische Stiege in das Schloß zurück, in dem die größte Stille herrschte. Der Graf öffnete ein Verließ und warf Justine hinein. »Unverständiges Mädchen,« sprach er zu ihr, »ich hatte dir doch gesagt, daß du mit dem Tode bestraft werden würdest. Bereite dich also vor, morgen nach Tisch werde ich dich ins Jenseits befördern.« Das arme Geschöpf stürzte sich von neuem dem Barbaren zu Füßen. Der aber ergriff sie an den Haaren, zerrte sie zwei oder dreimal im Gefängnis herum und warf sie schließlich an die Mauer.

»Du würdest verdienen, daß ich dir sofort die Adern öffne,« sprach er im Hinausgehen, »und wenn ich dein Ende verzögere, geschieht es nur um es grausamer und schrecklicher zu gestalten.«

Man kann sich nicht vorstellen, wie qualvoll die folgende Nacht für Justine war. Man muß selbst unglücklich gewesen sein, um sich die Angst einer zum Tode Verurteilten vorstellen zu können. Ueber die Art ihrer Qualen in Ungewißheit gab sie sich hunderterlei Vorstellungen hin. Beim leisesten Lärm glaubte sie ihren Henker zu hören und ihr Blut erstarrte. Unsere Heldin befand sich sechsunddreißig Stunden in dieser Lage, als die Türen sich öffneten und Gernande erschien. Er war allein und in seinen Augen funkelte Wut.

»Sie kennen,« sprach er, »den Tod, der sie erwartet. Ihr Blut muß in Absätzen herausströmen und ich will ihnen dreimal im Tag zur Ader lassen.« Und das Ungeheuer ergriff einen Arm Justines, stach sie und verband die Wunde um Justine für neue Qualen aufzusparen. Kaum war er aber zu Ende, als man lautes Schreien hörte: »Mein Herr, mein Herr, kommen Sie so rasch als möglich,« rief einer der Alten, »Madame stirbt und sie will Sie noch sprechen, bevor sie ihre Seele aufgibt.«

Wie immer man auch an Verbrechen gewöhnt sein mag, im Augenblick, da es sich vollzieht, erfährt man doch einen Anfall von Schrecken. Gernande stürzte verwirrt hinaus und vergaß die Türen zu schließen. Justine zog aus diesem Umstand Nutzen und so geschwächt sie auch war, es gelang ihr aus ihren Kerker zu entfliehen und den Hof zu überschreiten. Bald befand sie sich auf der Landstraße, ohne von jemand bemerkt zu sein.

Voll von Dankbarkeit für ihren eingebildeten Gott, schritt sie tapfer weiter und bei Anbruch der Nacht kam[378] sie an eine Hütte, die bereits sechs Meilen vom Schloß entfernt war.

Da sie ihre Herrin für tot hielt und den Brief an die Mutter nicht mehr besaß, verzichtete sie auf die Hoffnung. Volmire nützlich zu sein und brach am nächsten Morgen nach Lyon auf.

Nach acht Tagen langte sie an, sie ruhte sich in der Stadt aus und beschloß nach Grénoble weiter zu reisen, wo, wie sie sich einbildete, sie zweifellos ihr Glück machen würde. Wir aber wollen einmal betrachten, was ihr inzwischen zustieß.
XVII. Kapitel.

Justine überließ sich einen Augenblick lang ihren trüben Gedanken, als ihr eine Zeitung in die Hand fiel. Sie las darin mit Erstaunen, daß Rudin, jener niederträchtige Mensch, der sie so grausam bestraft hatte, soeben von der Kaiserin von Rußland als Leibarzt erwählt worden war. »Großer Gott,« rief sie erstaunt aus, »so ist es also in meinen Schicksale geschrieben, daß ich nur Beispiele von belohntem Laster und bestrafter Tugend sehen soll. Nun denn, er möge triumphieren, der Verbrecher, da es die Vorsehung will und du Unglückliche dulde, dulde ohne dich zu beklagen. In deinem Herzen herrscht Ruhe, während in dem jener Verbrecher die Gewissensbisse ihren Sitz aufgeschlagen haben.« Die Arme sie wußte noch nicht, daß es für derartige Seelen keine Gewissensbisse gibt.

Unser interessantes Mädchen befand sich aber noch nicht am Ende ihrer Dulderjahre und sie mußte noch einige Beispiele von belohntem Laster sehen.

Sie beschäftigte sich gerade mit ihrer Abreise, als ein in Grün gekleideter Lakai ihr eines Abends folgendes Schreiben überbrachte und sie um Antwort bat:

Jemand, den Sie falsch verdächtigen, brennt danach Sie zu sehen. Beeilen Sie sich, ihn aufzusuchen. Die betreffende Person kann Ihnen vielleicht Aufklärung geben, die Sie von Ihrem Irrtum befreit.

»Woher kommen Sie mein Herr,« fragte Justine den Lakai, »ich kann Ihnen erst antworten, wenn ich weiß, wer Ihr Herr ist.«

»Er heißt Saint-Florent, Fräulein, er hat Sie früher einmal in Paris kennen gelernt und Sie haben ihm, wie er behauptet, Dienste geleistet, die er unbedingt belohnen möchte.

Jetzt steht er an der Spitze eines großen Handelsgeschäftes und ist im Besitze eines Vermögens, das ihm in die Lage versetzt, seine Pläne mit Ihnen zu verwirklichen.«

Justinens Entschluß war bald gefaßt. Wenn dieser Mann, so dachte sie, keine guten Absichten hätte, würde[379] er mir nicht auf diese Art und Weise schreiben. Zweifellos bereut er seine Niederträchtigkeiten und erinnert sich an die Bande die uns vereinigen. Oh, zweifellos, er hat Gewissensbisse und ich würde mich gegen das höchste Wesen vergehen, wenn ich sie nicht mildern wollte. Ich bin übrigens nicht in der Lage eine Hilfe, die sich mir bietet, zurückzuweisen. Dieser Mann will mich überdies in seinem eigenen Hause empfangen und er wird sich wohl hüten, sich nochmals vor seinen Leuten gegen mich zu vergehen.

Auf Grund dieser Ueberlegung beschied Justine den Lakaien, sie werde sich am nächsten Tag um 11 Uhr die Freiheit nehmen, seinen Herrn zu begrüßen. Sie legte sich ins Bett, war aber mit dem, was ihr dieser Mann zu sagen hätte, so sehr beschäftigt, daß sie kein Auge schließen konnte. Endlich am nächsten Tage machte sie sich auf den Weg. Ein prachtvolles Haus, eine Unmenge von Dienern sowie die demütige

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Veröffentlicht / Quelle: 
Marquis de Sade: Die Geschichte der Justine. 1906
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