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hatte bisher nur den unbestimmten Wunsch, Justine an dich zu binden. Dieser Plan bildet von nun ab das Glück und den Trost meines Lebens. Empfange dieses Geschenk aus meiner Hand.«
Die beiden Mädchen umarmten sich und Justine blieb.
Es vergingen keine acht Tage und schon versuchte sich unser keusches und tugendhaftes Mädchen an der ersehnten Bekehrung. Allein die Verstocktheit Rodins übertraf alle ihre Erwartungen.
»Glaube nicht,« antwortete er ihr eines Tages, »daß die Huldigung, die ich der Tugend durch dich leiste, ein Beweis dafür ist, daß ich sie schätze oder sie dem Laster vorziehe. Diejenigen, die nach meiner Handlungsweise dir gegenüber annehmen würden, daß die Tugend wichtig oder gar notwendig ist, würden in einen großen Irrtum verfallen. Nein. Ich setze mich einer Art Gefahr aus, die Tugend schützt mich davor, so bediene ich mich ihrer. Aber ist sie deshalb weniger unnütz? In einer ganz lasterhaften Gesellschaft würde sie zu nichts taugen. Da aber unsere Gesellschaft leider nicht so beschaffen ist, muß man entweder Tugend heucheln oder sich ihrer bedienen. Täuschen wir uns nicht: Die Tugend ist kein unwandelbarer Wert. Sie ist veränderlich und nur was zu allen Zeiten, bei allen Völkern und in jedem Klima nützlich ist, ist wahrhaft gut. Stete Veränderlichkeit ist kein Zeichen von Größe. Daher rechnen auch die Gläubigen unter die Vorzüge ihres Gottes die Unwandelbarkeit. Die Tugend hat aber nichts von dieser Eigenschaft in sich. Es gibt religiöse Tugenden, Tugenden, die von der Mode, dem Umstand, dem Temperament oder dem Klima abhängen. Die Tugenden in einer Revolutionszeit sind beispielsweise ganz andere wie zu Zeiten einer ruhigen Regierung. Brutus, einer der größten Republikaner, wäre in einer Monarchie gerädert worden. Der unter Ludwig XV. hingerichtete Labarre hätte einige Jahre später vielleicht eine Krone erhalten.
Es gibt im allgemeinen keine zwei Völker auf der Erde, die auf gleiche Art tugendhaft sind: Man muß daher zu seinem Schutz die seines Landes annehmen, aber das beweist noch keinen wirklichen Wert der Tugend. Es gibt überdies Tugenden, die für manchen Menschen unmöglich sind. Lehren Sie einem Wüstling keusch[95] sein, einem Trunkenbold nicht zu trinken, einem grausamen Menschen mildtätig zu sein. Die Natur alle von Ihnen auferlegte Fesseln brechen und Sie werden; eingestehen müssen, daß eine Tugend, die die Leidenschaften bekämpft, bloß gefährlich sein kann. Bei den eben angeführten Menschen werden die ihnen zuerteilten Lasten sicherlich zu ihrem Wohlbefinden und ihrer Gesundheit nötig sein. Wenn aber diese Laster nützlich sind, wie können es dann die ihnen, entgegengesetzten Tugenden sein. Man wird Ihnen darauf antworten: Die Tugend ist den anderen nützlich und von diesem Standpunkt aus ist sie gut. Denn wenn ich anderen nur Gutes tue, werde ich meinerseits auch nur Gutes empfangen. Hüten Sie sich davor, so zu denken. Für das wenige Gute, das ich von den anderen empfange, leiste ich eine Million von Opfern und Entbehrungen, die mir nicht vergütet werden. Ich mache also ein schlechtes Tauschgeschäft und es ist für mich besser, darauf zu verzichten, anderen ein Glück zu verschaffen, das mir so teuer zu stehen kommt. Bleibt noch das Unrecht, das ich bei meiner Lasterhaftigkeit dem andern zufügen kann, und das Böse, das ich meinerseits dann zurückerhalte. Wenn ich einen vollkommenen Kreislauf des Lasters annehme, so begebe ich mich entschieden in eine Gefahr. Allein die dadurch entstehenden Sorgen werden durch das Vergnügen ausgeglichen, andere gefährden zu können, und so würde bald jedermann glücklich sein. Aber – sagen die Dummköpfe – das Laster macht nicht glücklich. Nein, sicherlich nicht, wenn man auf die Tugend eingeschworen ist. Aber ergeben Sie Sich einmal nur dem Bösen, vergessen Sie an die Tugend, dann werden Sie an einem Verbrechen nur Freude haben. Ich nehme beispielsweise eine Gesellschaft an, in der die Blutschande ein Verbrechen ist. Diejenigen, die sich ihr hingeben, werden unglücklich sein, weil die öffentliche Meinung, die Gesetze, der Gottesdienst und alles andere sie hindern würde. Diejenigen, die dieses Vergehen versuchen wollten, es aber nicht wagen würden, wären gleicherweise unglücklich: So würde das Gesetz gegen die Blutschande nur Unglückliche schaffen. In der benachbarten; Gesellschaft ist aber die Blutschande kein Verbrechen. Diejenigen, die nicht nach dieser Liebeslust begehren, werden nicht unglücklich und diejenigen, die dennoch begehren, werden glücklich sein Die letztere Gesellschaft wird aber sowohl in diesem Falle wie in allen anderen die dem Menschen vorteilhaftere sein. An der Tugend ist also nichts Gutes und nichts Verehrungswürdiges und diejenigen, die ihren Weg wandeln, dürfen sich darauf nichts einbilden: Sie ist ein Ding, das durchaus von den Umständen abhängt. Das Laster steckt aber im Gegenteil voll Annehmlichkeiten. In ihm liegt das ganze Lebensglück, nur durch seine Glut werden die Leidenschaften entzündet und derjenige, der, wie ich, sich einmal gewöhnt hat, in diesen Anschauungen zu leben, kann keinen anderen Weg mehr einschlagen. Ich weiß wohl, daß diese Anschauungen von Vorurteilen bekämpft werden und daß die öffentliche[96] Meinung manchmal über sie triumphiert. Aber gibt es etwas Verächtlicheres in der Welt als die öffentliche Meinung oder gar die Vorurteile? Voltaire sagte: Die öffentliche Meinung ist die Herrscherin der Welt. Heißt das aber nicht eingestehen, daß sie wie alle Herrscherinnen nur eine auf Uebereinkunft beruhende Macht besitzt? Und was liegt mir an der öffentlichen Meinung! Es gibt zwei Dinge: Entweder man verbirgt sie oder man läßt sie mir gegenüber laut werden. Im ersten Fall widerfährt mir kein Unglück und im zweiten empfinde ich sogar Vergnügen. Ja, zweifellos ein Vergnügen, denn es ist unendlich reizvoll, der öffentlichen Meinung zu trotzen. Aber der Gipfel der Klugheit ist, sie zum Schweigen zu bringen. Man rühmt uns die allgemeine Achtung. Aber, ich bitte Sie, was gewinnt man dabei, wenn man von den anderen geachtet wird? Dieses Gefühl legt dem Menschen Opfer auf, es beleidigt seinen Stolz. Ich könnte vielleicht denjenigen lieben, den ich verachte, niemals aber den, den ich achte. Wir wollen nicht länger zwischen diesen beiden Lebensformen schwanken, von denen die eine – die Tugend – nur zur stupiden Einförmigkeit und Untätigkeit führt, während die andere alles in sich vereinigt, was es Bezauberndes auf Erden gibt.«
Dies war die teuflische Logik, die in den Leidenschaften Rodins lag. Die sanfte und natürliche Beredsamkeit konnte auf diese Sophismen nichts erwidern.