Seiten
im Ansatz gewillt gewesen, Johanna Brummer Hoffnungen auf eine Zukunft mit Karl zu machen. Immer wieder, sehr geschickt, erwähnte sie den großen Altersunterschied von 20 Jahren. Dann senkte Johanna das Haupt, knickste vor der Arbeitgeberin und entfernte sich rasch, mit Tränen in den Augen. Der Enkel indes, er wurde heftig geliebt, von allen. Dies wusste Karl, und er war sehr froh darum. Solche Liebe hätte er seinem Sohn sehr gern auch zuteil werden lassen. Sehr oft verfiel er genau deswegen in trübe Stimmungen, in Melancholie und Schwermut. Und oftmals überkamen ihn diese Phasen ganz überraschend, mitunter sogar mitten in einer der vielen Feierlichkeiten, die sich im Theater boten, denn nahezu täglich gab es einen Umtrunk nach der Schicht, weil wieder einmal einer der Arbeiter Geburtstag feierte.
Die Briefmarken waren hoch im Kurs. Er konnte sie immer mit einem Sammler aus der Küchen-Brigade tauschen. Für Karl gab es dann die eine oder andere Leckerei, die ihm sonst niemals zuteil geworden wäre, und für den Unterkoch war es einfach großartig, die seltenen deutschen Briefmarken sammeln und einkleben zu können.
Nachdem Karl R. nun deutlich mehr Gehalt erhielt, begann er, sich die diversen und vielfältigen Angebote anzusehen, die es im Umfeld des Natur-Theaters gab, was die Ausbildung zum Mimen anbelangte. Manche Komparsen und Kleindarsteller rieten ihm, unbedingt die Akademie der Azimuth „Blip“ Wind ins Auge zu fassen. Blip habe stets den besten Ruf gehabt, und die aus ihrer Akademie entlassenen Mimen seien allesamt, ohne jede Ausnahme, auch hier am Theater übernommen worden. Azimuth selbst ist zuvor eine gefeierte Schauspielerin gewesen, war nun seit 10 Jahren im Ruhestand. Und seither lehrte sie die hohe Schauspielkunst. Dieser Nickname Blip faszinierte Karl. Allein dieses Namens wegen wollte er sich von ihr ausbilden lassen. Wer Blip heißt, der muss doch über ausgezeichnete Erfahrungen und natürlich die besten Verbindungen verfügen, der muss doch das Schauspiel mit der Muttermilch eingesogen haben. Für Karl stand es fest. Er wollte dieser Akademie beitreten. Und tatsächlich, an einem schönen Morgen im frühen Herbst sprach er dort vor. Er bekam „Blip“ allerdings in den ersten 8 Monaten überhaupt nicht zu Gesichte. In dieser Zeit hatte er es nur mit diversen Lehrern zu tun, die Sprechen und Bewegung vermittelten und natürlich die Dramaturgie. Szenen- und Rollenstudium sollte dann die Meisterin übermitteln. Aber erst nach dem 9. Monat der Ausbildung, wenn Disziplin, vor allem auch die Belastbarkeit, in ausreichendem Maße vorhanden schienen. Theaterrecht und Filmgeschichte wurde gelehrt, für Karl unwesentliche Fächer, Gesang und Tanz mochte er schon deutlich lieber. Artist Diploma, der Akademie-Brief, sollte am Ende der Lohn all dieser Mühe sein. Erst nach 12 schweren Monaten sollte es überhaupt zu einem ersten Auftritt kommen, endlich unter der Aufsicht der Azimuth „Blip“ Wind, der sehr berühmten Staatsschauspielerin, emeritiert. Die Auswahl erfolgte. Und Karl war bei denen, die vor den gestrengen Augen der Akademie-Chefin bestanden, und nun unter ihrer Regie ein Stück (Novizen-Ball nannte sie es scherzhaft) einzuüben hatten. Im 15. Monat seiner Ausbildung sollte Karl R. dann endlich, in einer großen Rolle, auf der Bühne agieren dürfen. Welches Stück würde die Mimin aussuchen?
Die Kosten für diesen 3jährigen, umfassenden Akademie-Lehrgang, hier Semester benannt (ein Halbjahr = 1 Semester), waren beträchtlich. Karl schrieb unter Tränen an seine Johanna, dass er die Verschickung des Geldes zu halbieren habe, diverser unerfreulicher Unannehmlichkeiten wegen. Ihm wurde schriftlich beschieden, es sei schon in Ordnung. Er habe doch bereits über all die Jahre schon so viel Geld an sie und den Jungen übersandt, da könne man jetzt auch mit der Hälfte auszukommen versuchen. Und wieder lag ein neues Bild des kleinen Jakob anbei. Auch eines von Johanna, in der er noch immer die tugendhafte, sehr ansprechend aussehende und so gewissenhafte Mutter des gemeinsamen Sohnes sah. Mitunter herzte er das Foto, manchmal wünschte er sich, die beiden könnten hier, bei ihm, sein, und wohnen. Er sah sich um. Nun, diese 12 qm würden für eine Familie nicht taugen. Das ward ihm wohl bewusst. Und er konnte sie auch jetzt nicht über den großen Teich holen, da er ja noch mitten in der Ausbildung war. Aber eines Tages, da wollte er es wagen. Alle sollten sie kommen. Seine Eltern, Johanna und Jakob, der Freund - und gerne auch die eine oder andere Bekanntschaft aus Amerika, nämlich dann, wenn er seinen 1. großen Auftritt haben würde, unter den gestrengen Augen der Azimuth „Blip“ Wind.
Mit großem Eifer studierte Karl. Wie er diesem Akademie-Brief entgegen fieberte...
Niemals zuvor hatte er sich für eine selbst gewählte Aufgabe so sehr engagiert. Nie.
-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Teil IV - Die Wiedervereinigung (Reunion)
Die Doppelbelastung, tagsüber Vorarbeiter im Bühnenarbeits-Prozess, abends dann die Akademie, bis mitunter spät in die Nacht hinein, setzte ihm schwer zu. Giacomo erkundete sich öfter, mitunter in dramatischen Worten, was denn nur mit ihm los sei. Er habe schwarze Ränder unter den Augen. Ob er dem Trunke ergeben sei? Da hat Karl gelacht und ihm scherzhaft auf das Kinn geboxt. „Nein, Freund Giacomo, nein, das hat seine Gründe, dass ich übernächtigt aussehe, aber diese Gründe sind nicht gerade dramatischer Natur. Sie werden sich schon recht bald wieder in einem normal zu benennenden Ablaufe finden. Nur keine Bange, mein junger Freund... Weder der Liebe noch dem Trunke habe ich mich ergeben. Zur rechten Zeit will ich dir berichten und du wirst sehen, bester Freund, du wirst es sehen: Alles findet sich dann!“
Giacomo hatte es dabei belassen. Er wusste nichts von der Ausbildung. Und auch sonst keiner. Weder die Intendanz noch seine direkten Vorgesetzten auf der Arbeit. In all den jetzt 35 Monaten seiner Tätigkeit für das Natur-Theater Oklahoma hatte er es keinem gesagt: Ich werde bald ein wirklicher Schauspieler sein. Ich werde, so Gott will, eines Tages auf der Bühne stehen und vielleicht einen Shakespeare-Charakter zu spielen haben, möglicherweise auch Goethe oder Schiller-Figuren verkörpern und spielen dürfen. Ja, eines guten Tages. Im Stillen dachte er: Ich arbeite daran. Sehr hart. Wenn ihr nur wüsstet. Ihr werdet noch alle von mir überrascht sein, eines Tags.
Die Eltern in Prag wussten nichts davon, Johanna nicht, und auch der ferne Freund, er hatte keine Ahnung davon, dass Karl heimlich seine Interessen