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die sich auch außerhalb der Arbeit trafen.
In seinem kleinen Zimmer hatte sich Karl wohnlich eingerichtet. Mittlerweile hing auch ein nettes Bild, eine Ansicht Prags, über seinem Bette. Es zeigte den Hradschin und die Karlsbrücke, gemalt von Heinrich Tomec, von 1863. Wenn er es, bei einer Pfeife, langanhaltend betrachtete, konnte es schon einmal vorkommen, dass ihn die völlige Sentimentalität überkam und er zu schluchzen begann. Ach, Prag, Johanna, Jakob, die Eltern... Er drückte diese schwermütigen Anwandlungen nieder. Schließlich galt es ja, hier und heute zu bestehen. Seiner Aufgabe gerecht zu werden. Den tausend Anforderungen gegenüber, hellwach bleibend, die Stirn zu bieten. Er war ja lediglich auf dem Wege - hin zum Künstler auf der Bühne. Einem begnadeten Mimen, vor aller Augen. Einem Schauspieler, von dem zu reden sein würde. Dereinst.
Bald wurden Karl die Geheimnisse offenbart, die jedem, der am Theater arbeitet, nun einmal bewusst werden müssen, früher oder später. Ihm hatte also Hinterfelden, sein Vorarbeiter, eine Lektion erteilt, so, wie sie jedem Mitarbeiter, der mit der Bühne zu tun hatte, erteilt worden war, seit Anbeginn an. Karl wusste nun, dass kein Mensch mit einem Hut auf dem Kopfe über die Bühne gehen durfte. Es war strengstens und vehement verboten. Einen fehlenden Knopf darf man nicht am Körper eines Mimen annähen. Pfauenfedern sind grundsätzlich nicht erlaubt. Das provoziert den „bösen Blick“. Das berühmte Toi Toi Toi wird erst dann gewünscht, wenn der Schauspieler bereits im Kostüm ist. Privatkleidung auf der Bühne bringt großes Unglück. Daher ist, in Anlehnung an den 1. Satz, zu sagen: Trage niemals den eigenen Hut oder auch den eigenen Mantel auf der Bühne, vor einer Vorstellung. Man isst und trinkt nicht im Theaterraum. Man zieht demütig seinen Hut vor demjenigen, der über einem steht. Und sei es der Bühnentechniker auf dem Schnürboden. Der Aberglaube beherrscht das Theater-Geschehen komplett. Wer hier nicht ganz genau aufpasst, zieht sich den Unmut des Theater-Volks zu. Und ist dann, für immer, unten durch. Vorarbeiter Hinterfelden gab auch ein Beispiel an, bezüglich Hut und Mantel auf der Bühne. Er sagte: „Früher wurden fristlose Kündigungen seitens der Intendanz immer mit Hut und im Mantel ausgesprochen. So drückte sich die „Allmacht der Verantwortlichen“ aus; seither gilt es als böses Omen, kommt einer mit dem Hut auf dem Kopf und mit dem Mantel an auf die Bühne. Merke dir das, Roßmann, wenn du hier zu überdauern versuchen möchtest, hier am Natur-Theater von Oklahoma, dem größten der Welt!“
Gern sah sich Karl, in seiner knapp bemessenen Freizeit, die Stadt an. Meist ging er nur Richtung Downtown. Eines Tages kam er an ein großes Plakat, das ihn ziemlich beeindruckte. Er las: „I was feeling like an one legged man in an ass kicking contest.“
Lange überdachte Karl den Sinn dieser Aussage. Es war eine Werbung für eine sehr starke Schädelweh-Tablette. Ihm war zwar die Aussage viel zu drastisch, aber auch, das konnte er kaum leugnen, reichlich verwegen und frech. Letztlich, so entschied er hier, gefiel ihm dieser „american way of life“, diese ganze Art, diese Entschiedenheit und die leicht drastische Art der Präsentation eines Problems. Auch die Zeitungen, es gab so viele davon in Amerika, schrieben völlig anders als zuhause in Deutschland. In jedem Fall musste umgedacht werden. Alles war größer, gewaltiger und so viel riesiger ausgelegt. Man war gezwungen, in Amerika, in ganz großen Maßstäben zu denken. Blieb man, in Gesinnung und Ausrichtung, deutsch, so konnte man hier auf gar keinen Fall bestehen. „Denke groß!“ So hatte sich der Onkel ja bereits am ersten Tag an Karl gewandt. „Denke riesig! Und selbst das ist noch zu klein“, hatte er gesagt und dabei geschmunzelt. Als er ihm dann Bilder vom Grand Canyon zeigte, da wurde Karl ganz klein und stumm. Nun wusste er, was „BIG“ bedeutete. Auch New York hat diesen Spitznamen erhalten, „the big apple“. Ohne jeden Zweifel war dies die größte Stadt aller Zeiten, die Karl Roßmann jemals zu Gesicht bekommen würde.
Gewaltigen Erfolg hatten viele Erfindungen und Entdeckungen, die aus diesem so riesigen Lande kamen. Ein gewisser John Stith Pemberton hatte 1886 ein Gebräu erfunden, das er Cola nannte. Ursprünglich wollte er Kopfschmerzen und Müdigkeit vertreiben. Gemixt mit Sodawasser, entstand so ein erfrischendes Getränk. Es hatte Karl auf Anhieb gemundet, als er es zum erstenmal probierte. Dieses Cola benannte Getränk wurde in Soda-Bars für 5 Cent pro Glas angeboten. Und Karl war narrisch darauf, wirklich völlig enthusiasmiert, wenn er Coca Cola trank. Als es in Flaschen angeboten wurde, kaufte er sich regelmäßig welche. Er wollte privat keinen einzigen Tag mehr ohne seine Cola sein. Ihm war, als hätte dieses Getränk Sucht-Charakter.
Ein kleiner Zettel schob sich, unter der Tür, in sein Zimmer. Er liebte diese kleinen Scherze, die Giacomo da trieb. Karl wusste, dass jeweils ein neuer Witz auf diesen Zetteln geschrieben stand. Giacomo war der Küchen-Brigade zugeteilt worden. Und dort ging es, dem Vernehmen nach, sehr rau und lustig zu. Man erzählte sich viele Witze, manche oft derb und grob. Diese mochte Karl nicht gar so sehr. Er war nun einmal eine „empfindliche Seele“, etwas sensibel. Aber wenn es ein guter Witz war, dann hatte auch Karl seine Freude. Heute las er: Petey fragt Yenée: Willst du meine feste Freundin sein? Yenée sagt, kurz angebunden: Hab schon einen Freund! Petey: Waaaaas? Du hast schon einen Freund? Yenée: Ja, wieso, ist das denn wirklich so erstaunlich? Petey: Aber ja, du bist doch so potthässlich, da wäre ich im Traume nie drauf gekommen! Yenée: Ja, diese Aussage erhöht deine Chancen bei mir natürlich in nicht unbeträchtlichem Umfange, mein lieber Petey! Petey: Wie jetzt? Ich bin wohl in deiner Gunst gesunken, Yenée? Yenée: Nein, du hast dich niemals meiner Gunst wirklich erfreuen dürfen! Aber immerhin weißt du nun, was Zynismus ist! Karl lachte. Nicht gerade laut, aber er lachte. Und dachte sich in den Unterlegenen hinein, Petey, und entdeckte manche Gemeinsamkeit. Schon musste er an Klara Pollunder denken.
In einer unruhigen Nacht träumte ihm von einem Mr. Negro Wonderfresh, der seinen alten Hund im Garten zu begraben beabsichtigte. Doch dieser sehr alte Hund lebte noch. Karl wollte den Greis darauf hinweisen: „Hören Sie,