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sein Gesicht bislang noch nie im Spiegel sehen müssen. Nun aber, in dieser Kaschemme am Hafen, dort saß Karl, mit magentarotem Gesicht, und spielte eine wilde Polka. Tchaikovsky, wüst und trunken. Nach solchen Nächten ist es oft am anderen Morgen gar nicht so leicht, ins Leben zurück zu finden. So auch Karl. Er fühlte sich matter als beim Niederlegen, wenig erfrischt durch die Wäsche. In einem starken Kaffee suchte er die Erlösung. Also wandte er sich rasch zur Tür, und strebte dem Nebenhause zu. Hier gab es das große Buffet für alle neuen Mitarbeiter.
Der Kaffee war stark. Er grüßte nach rechts und links, nahm sich 2 Hörnchen, etwas Marmelade und Honig, und setzte sich neben den heftig winkenden Giacomo. „Ah, so komm nur, Roßmann, keine Müdigkeit vorschützen, setz dich und speise mit mir. Es soll dir munden, mein Freund und Kupferstecher. Lass uns danach recht froh unser Tagwerk an neuer Stätte beginnen. Kein Lift muss bedient werden, sondern das Licht und die Takelage - oder wie das beim Theater heißt. Wir werden es sicher erlernen. Meine Aufgabe wird es zunächst sein, so stand es am Personal-Brett, in der Küche auszuhelfen. Ich bin´s zufrieden.“ Das Personal-Brett hatte Karl noch nicht gelesen.
Schließlich mussten sich alle, nach dem Frühstück, bei der Intendanz melden. Die Reihenfolge wurde durch den Nachnamen bestimmt. Freundlicherweise hatte doch der Personalchef der 10. Werbetruppe den Karl nicht bei „N“ einsortiert, sondern nun bereits, wie sich Roßmann das auch gewünscht hatte, bei „R“. Das klang doch schon sehr nach Aussöhnung und einem friedlichen Abschluss der Gespräche. Einen Brief hatte er noch bei sich, vom Onkel, der ihm damals im Landhaus, um Mitternacht, ausgehändigt worden war, die hochnotpeinliche Entlassung vom Dienst, auch die Entlassung aus der Obhut des Senators. Darauf stand: An Karl Roßmann, ihm um Mitternacht auszuhändigen! Persönlich! Dies war die einzige Möglichkeit, seinen Namen zu bestätigen. Zudem hatte er noch Fanny und Giacomo, die bestätigen konnten, dass er jener Karl Roßmann sei - und kein anderer, mag er auch noch so exotisch heißen. Doch gleich darauf dachte er auch, ein solch peinliches Schriftstück zu übergeben, dies könne ihm sehr schlecht ausgelegt werden. Lieber würde er den Brief nicht als stützenden Beweis seiner Existenz heran ziehen. Als die Reihe dann endlich an ihm war, das Mittagessen war schon lang vorbei, der frühe Abend mochte sich bereits anmelden, hatte er sich entschlossen: Es sollte ohne diesen Brief gehen.
Der Intendant, ein grundgütiger, stets lächelnder, älterer Herr mit einem imponierend langen Bart, schlohweiß, und völlig zerfahrenem, wirrem Haupthaar (ganz der Chef dieser Künstler-Anstalt, dachte Karl), bat Roßmann, Platz zu nehmen. Er hatte eine Notiz vorliegen, die jene besonderen Umstände in knappen Sätzen umrissen, die den Karl nun als Roßmann auswiesen, und nicht als Herrn Negro. Er lächelte mild, sagte, betont freundlich: „Nun, das kleine Missgeschick wollen wir mal ganz schnell unter den Tisch fallen lassen, junger Mann. Bleiben Sie uns gewogen, dann bleiben wir es auch Ihnen gegenüber. Wie kam es denn nun zu diesem phantasievollen Namen, Sie junger Mensch? Was haben Sie sich denn dabei bloß gedacht?“
Karl meinte, wenn einer so begänne: „Das kleine Missgeschick wollen wir mal ganz schnell unter den Tisch fallen lassen“, dann müsse es eigentlich nicht weiter erörtert werden, das Problem. Also antwortete er, ein wenig zu trotzig angelegt: „Es gab da verschiedene Hindernisse!“ Der etwa 65jährige Mann antwortete: „Aber die gibt es doch bekanntlich immer, mein Herr!“ Auf solche Reden hörte Karl eigentlich schon seit geraumer Zeit kaum noch, denn ein jeder nützt ja seine Machtstellung aus, und beschimpft, beschmutzt oder demütigt den Niedrigen. Ist man aber erst einmal daran gewöhnt, klingt es aber gar nicht mehr anders als das regelmäßige Ticken eines sehr leisen Uhrwerks. Karl war es müde, sich rechtfertigen zu müssen. Zumal er wusste: „Es ist unmöglich, sich zu verteidigen, wenn der gute Wille fehlt!“
Würde der alte Mann ihm nun also seine Missetat vergeben? Oder würde er weiter darauf herum reiten? Da ihm viel an dieser neuen Stellung lag, wollte er noch einen versöhnlichen Anlauf nehmen. „Sehen Sie, ich war verwirrt. Aus reiner Boshaftigkeit entlassen, stand ich mittellos auf der Straße. Da kam ich an dem Plakat vorbei, das besagte: „Wir können Jeden brauchen, wenn er nur guten Willens ist!“ Ich schöpfte Mut und dachte mir: Hier bist du gut aufgehoben. Plötzlich, ein Narr mag mir das ins Ohr geflüstert haben, überkam mich die grobe Lust, mich Negro zu nennen...“
Da unterbrach ihn der Intendant. „Mehr muss ich nicht wissen! Sie sind guten Willens und wollen arbeiten. Sie sind jung und stark. Also, versuchen wir´s miteinander. Dies ist Ihre große Chance, junger Karl Roßmann. Es bieten sich Ihnen in unserem guten Hause ungeahnte Möglichkeiten. Ergreifen Sie sie! Sie sind angenommen und somit werden Sie von mir ganz herzlich beglückwünscht! Nun gehören Sie dem großen, unvergleichlichen, phänomenalen Naturtheater von Oklahoma an. Willkommen, der junge Herr, herzlich willkommen! Aus dem Zentralregister lasse ich Ihre Aktenkopie kommen. Solange diese nicht vorliegt, verbürgt sich der Herr Personalchef der 10. Werbetruppe sehr ordentlich für Sie! Meinen Glückwunsch!“ Wie in Amerika üblich, wurde die Hand sehr lange und nachdrücklich geschüttelt. Karls Meinung war, viel zu lange. In nahezu unanständiger Manier. Das ist eben der amerikanische Stil, so Karl.
Karl hatte feuchte Augen, als er dem Intendanten so lange und ausgiebig die Hände schüttelte. Das war gerade noch mal gut gegangen. Dem Herrn Personalchef sei Dank. Als der General-Intendant dann endlich Karls Hand entließ, war es ihm, als öffne sich der Himmel und eintausend Geigen spielten ihm zuliebe ein Ständchen aus der Heimat. Ein feines Klavier unterstützte die zarte Melodei im Hintergrund. Die für ihn größten Hindernisse hatten sich, wie von selbst, entfernt, gleich nachdem es, nach übermäßig langem Schütteln, gelungen war, sich von der Hand des Chefs von sicher jetzt 12000 Untergebenen zu lösen.
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Teil III - Arbeitstage (Working days)
Die Arbeit fiel Karl nicht sonderlich schwer. Oftmals musste er sehr früh aufstehen, immer dann, wenn eine Vormittags-Vorstellung (Matinee), oder eine Nachmittags-Aufführung, und dann noch eine Abend-Veranstaltung auf dem Programm stand. Wenn er um 4:20 Uhr von seinem kompromisslosen Wecker in die Höhe getrieben