Fortsetzung und Beendigung von Franz Kafkas Romanfragment "Amerika" - Page 4

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National Forest hier, der an ihnen ohne jeden Halt vorüber schob, weiter, und immer weiter, einfach nicht begreifen, nicht einordnen konnte. Auch das wäre wohl, als reine Erzählung, eine unbegreifliche Welt. Sah man den üppigen Reichtum einer solchen herrlichen Landschaft, so konnte man es doch nicht in Worte fassen. Die meisten der Passagiere behalfen sich mit einem langgezogenen „Ah“ oder einem schlichten „Oh“.

Fanny, seine frühere Kollegin aus den Ramses-Zeiten, mit der er in der Pension Brenner zusammen gewohnt hatte, gesellte sich zu ihnen. Sie hatte Sandwiches dabei, sehr willkommen wurden diese begutachtet und hernach verspeist. Giacomo wollte unbedingt das Thunfisch-Sandwich, strahlte, als er es auch erhielt, Karl nahm, mit Freuden, das Truthahn-Sandwich. Fanny erzählte von ihrer Aufgabe in Clayton, als Werbe-Engel mit der Trompete. Während der Zeiten, da die 10. Werbetruppe in Clayton stationiert war, 3 Tage lang, hatte sie, auf dem hohen Podest, die Trompete gespielt. Einen sonderlichen Eindruck hatte das auf die Bewerber nicht gemacht. Karl schien es, als stieße die Aktion eher ab, denn Menschen anzuziehen. Hätte Karl da nicht, als erster überhaupt, die Hemmschwelle überschritten und wäre über Podium und Bühne drüber und hindurch marschiert, hätten möglicherweise nur sehr spärlich Bewerber vorgesprochen. Womöglich gar keiner. Es musste immer einen 1. geben. Vielleicht war es auch die Schuld eines Personalchefs, der seinem Engel Fanny die Trompete in die Hand drückte, wohl wissend, dass jene sie nicht zu spielen in der Lage war. Karl war zu ihr hoch geklommen, auf das große Podest, und hatte dann die Trompete gespielt. Gut und wunderschön hatte er sie gespielt. Voller Gefühl.

„Wir können Jeden gebrauchen, der guten Willens ist!“ So wurde proklamiert. Und tatsächlich, bis auf wenige Ausnahmen waren alle, die vorgesprochen hatten, auch angenommen worden. Und die Möglichkeiten waren mannigfaltig. Es wurden ebenso Bürokräfte benötigt als auch Arbeiter jeglicher Couleur. Es wurden Musiker eingestellt und Schauspieler, es wurden Maler und Näherinnen benötigt, angenommen wurden auch Köche/Köchinnen, Elektriker, Schlosser, Tischler und Dekorateure. Man macht sich keinen Begriff davon, wie groß dieses Naturtheater von Oklahoma überhaupt ist.

Fanny erzählte beim Essen, es gab auch Holundersaft, der allen sehr mundete, dass weit über 9.000 Menschen insgesamt für das Theater tätig wären. Und ohne Zweifel genügte diese Anzahl an Beschäftigten nicht, den Betrieb in Gang zu halten. Daher waren, an insgesamt 6 strategischen Punkten in den USA, Werbeveranstaltungen abgehalten worden, alle zeitgleich, und zwar in Clayton, Missouri, in Salt Lake City, Utah, in Austin, Texas, in Springfield, Illinois, in Harrisburg, Pennsylvania und auch in Nashville, Tennessee. Man hoffte auf weitere etwa 2.000 - 3.000 Kräfte, die man auf diesem Wege anwerben hatte wollen. Die Gesamt-Aktion war nun, seit heute morgen erst, beendet worden. Mit dem Aufbruch, von allen Seiten der Staaten, in das schöne Oklahoma City, würden die neuen Kräfte dem riesigen Naturtheater beigeordnet und eingemeindet werden. Die gewaltige Vorfreude konnten jetzt alle in höchstem Maße auszuschöpfen suchen, da doch das eine große Hindernis, von dem Karl bereitwillig auch Fanny erzählte, allerdings unter schamroten Wangen, ausgeräumt schien. Der Personalchef würde sich für ihn einsetzen, bei der General-Intendanz in OK City. Die gute Fanny, sie schien über diese Geschichte ergötzt, keineswegs verärgert, traurig. Sie schmunzelte und wiederholte versonnen den Namen: Negro, Negro. Dann lachte sie laut auf: „Du bist doch ein gar spaßiger Kauz, Roßmann. Langweilig wird es mit dir niemals.“

Fanny war außergewöhnlich gut gelaunt. Sie holte alsbald die Trompete, bat Karl, der sie doch so schön zu bedienen wusste, ein Lied zu spielen. Karl spielte, frei aus dem Kopf, „Stenka Razin“, eine alte, russische und sehr traurige Melodei, zu Tränen und zur inneren Einkehr rührend. Die Textzeile „Wolga, Wolga, liebe Mutter, Wolga, du russischer Strom, du hast noch kein Geschenk gesehen von einem Don Kosaken! Und damit keine Zwietracht herrsche unter freien Menschen, Wolga, Wolga, liebe Mutter, wegen eines schönen Mädchens - nimm du es!“ Wissend, dass die schöne Prinzessin, der Wolga geopfert, über Bord eines Schiffes geworfen worden war. Es ist so traurig, so unfassbar traurig, dieses Stück. Warum musste Karl es jetzt, an diesem doch eher ausgelassen-fröhlichen Orte spielen? Dreier bedeutungsvoller, sehr geheimer innerer Zeichen wegen. Da war zunächst die Sehnsucht nach der Heimat, die für immer verloren schien. Dann die stille Wehmut, seines doch noch so kleinen Jungen wegen, der sicherlich auch den Vater, nicht nur die Obhut der Mutter, brauchte. Ach Jakob, seufzte Karl in Gedanken, und beim Spielen rann ihm, erneut, eine sanfte Träne über die Wange. Dieses Mal hatte sie sich die rechte Seite Karls ausgesucht. Alle waren hoch ergriffen, als sie den Bläser weinen sahen, während des Spiels. Keiner begriff. Alle dachten wohl: Die Melodei ist´s, diese melancholisch schöne, getragene und sentimentale alte Weise. Doch sie irrten. So sehr Karl Stenka Razin auch liebte, heimlich liebte er auch Fanny, diesen süßen Fratz mit der kessen Kurzhaarfrisur. Nur ein einziges Mal hatte er in ihrem Schopf kurz wühlen dürfen. Ein Kuss nur ward ihm vergönnt. Eher aus Übermut entstanden, aus der Laune heraus. Und dies war also die dritte, zarte Sehnsucht, die Karl beim Spielen erschauern ließ.

Herrlich war es in Butterford. Vollmond. Eine magische Nacht. Auf einem Volksfest hatten sie sich amüsiert, endlich einmal raus aus Ramses, hatte Fanny gerufen. Da hatten sie sich einst geküsst. Nur ein einziges Mal. Beide waren danach erschrocken auseinander gefahren, fast entsetzt. Äußerst befangen und schamvoll hatten sie sich angesehen. Danach. Fanny beeilte sich zu sagen, dass es ein einmaliges „Malheur“   gewesen sei. Er müsse doch an seine Verlobte denken, die Johanna Brummer, und seinen Sohn Jakob. Karl sah das ebenso. Und dennoch. Seit dieser Zeit des einen Kusses, da wurde ihm das Herz ganz leicht, erblickte er die süße, kecke Fanny. So leicht kann ein Herz doch sein. Und doch ja auch so schwer, bedenkt man denn die Unmöglichkeit des Ansinnens. Die nahe und dennoch unendlich ferne Fanny. Schwer das Herz, damals, gleich nach dem Kuss, und...

eben wie jetzt so schwer, da er Stenka Razin spielte. Als er geendet hatte, stand ein sehr russisch aussehender Passagier auf und klatschte begeistert Beifall, frenetisch: Krasivyy, Spasibo, Spasibo (phonetisch: Spasiba), [Übersetzung: Schön! Danke, danke!] brüllte der

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