Eine Ausschweifung - Page 5

Bild von Lou Andreas-Salomé
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weiterentwickelt haben, sondern mußte, um zu wirken, genau so geblieben sein, wie es war, grade wie eine alte Kinderfibel, die ohne ihre naiven Lehren und Verschen auch nicht mehr ein Erinnerungsbuch wäre.

Es reute mich nicht mehr, Paris verlassen zu haben, trotzdem ich grade jetzt dort den Winter hatte genießen wollen, — und doch lag in der Stimmung, worin ich diese Reise unternahm, mir unbewußt, ein tieferer Leichtsinn, der von dunkeln Sensationen träumte, als in allen Genüssen, zu denen ich mich dort hätte verleiten lassen können.

In Brieg langte ich am Abend nach neun Uhr an. Den Tag meines Eintreffens hatte ich absichtlich nicht gemeldet, ich ließ mein Gepäck am Bahnhof und ging langsam über den Wallgraben unsrer Steinstraße zu.

Es schneite. Ein mächtiger Wind, von Norden daherfahrend, fegte über die Oderniederungen und die schlesische Ebene hin, das kleine Brieg lag förmlich eingesargt im tiefen weißen Winterschnee. Bei diesem Wetter waren die winkligen Gassen trotz der Weihnachtszeit noch stiller, noch menschenleerer als sonst, und in den Häusern brannten die Lampen hinter fest zugezogenen Vorhängen.

Man konnte in dem von Schneeflocken umtanzten Laternenschein nicht gerade viel erkennen, aber das sah ich doch mit lebhaftem Bedauern, bis zu welchem Grade die alte charakteristische Stadtphysiognomie sich im Lauf der Jahre verjüngt zu haben schien. Schon vermißte ich an den schmalen alten Häusern hier und da das köstlichste Giebelwerk, und überall hatte die schlechte Glätte billiger Modernisierung begonnen, die verfallende Schön­heit zu ersetzen. Auch Brieg ging also vor­wärts! es war nicht mehr ganz das alte, vertraute Städtchen, auf dessen winklige Enge ich mich gefreut hatte. Der Fortschritt des Lebens mit seinen praktischen Anforderungen, der häufiger das Banale nützlich findet als das Seltene, hatte auch hier manches Schöne als Hindernis aus dem Wege geräumt.

Als ich bei unsern großen, einförmigen Anstaltsgebäuden anlangte, sah ich ganz nah am Eingang unsers Hauses einen Mann stehn, im weiten Mantel und eine Fellmütze auf dem Kopfe.

Er stand ganz regungslos da, und blickte mir entgegen, während ich mich am Parkgitter des Irrenhauses entlang ihm mehr und mehr näherte. Der Laternenschein fiel ihm in den Rücken, so daß seine Züge im Dunkeln blieben, aber ich wußte doch sofort, daß, es Benno war. Mich ergriff eine kindische Freude, so groß, wie ich sie nie für möglich gehalten hätte, zugleich mit dem Verlangen stehn zu bleiben.

Aber das erlaubte der Sturm nicht; er blies mich von hinten an, als wehe er mich ihm einfach entgegen. Ich konnte merken, wie an meinem Reisehut der zurückgenommene Schleier zerrte und flog, gleich einem ungeduldig aufflatternden gefesselten Vogel.

Und jetzt kam Benno mir langsam entgegen.

»Dina!« rief er mit unterdrückter Stimme, noch eh ich bei ihm war.

»Da bist du ja!«sagte ich froh, ließ achtlos meine kleine Reisetasche auf den Schneeboden gleiten und streckte ihm beide Hände entgegen, »— hast du mich denn erkannt?«

»Adine! so unerwartet und unangemeldet, — von niemand empfangen!« äußerte er wie in tiefem Staunen, und dann: »Erkannt — ja, erkannt, noch eh ich wußte, daß du es sein könntest. An deinem Gang. Nur grade am Gang. Dies sorglos wiegende Schlendern, — nur du gehst so, — es sieht aus, als ob es auf der Welt nur lauter geebnete Wege gäbe, oder als schritte ein unsichtbares Wesen vor dir her, das sie dir ebnet. — — Und du kommst im Schnee — — zu Fuß?«

»Ja freilich, zu Fuß, von Stein zu Stein, über das bekannte alte Pflaster. Es war ja noch früh. Schön war’s. Der Schnee, der fiel so dicht; — das alte Brieg! wie es aussah im Schneesturm!« Dabei blies uns der Wind immerzu die breiten Flocken ins Gesicht, während wir dastanden und sprachen, wie wenn ich bereits zu Hause wäre, wie wenn ich dazu nicht erst einzutreten brauchte.

Benno hob meine Reisetasche vom Boden auf und bemerkte:

»Deine Mutter, Tante Lisette, wird ganz außer sich vor Freude sein. Sie konnte es kaum noch erwarten.«

»Ich gehe leise zu ihr hinein, — gieb mir den Schlüssel,« sagte ich und trat neben ihm ans Haus, »— oder kommst du mit?«

Er schüttelte den Kopf und wies nach der Irrenanstalt hinüber.

»Ich muß noch dorthin, — stets um diese Stunde noch einmal inspizieren —. Also auf morgen. Schlaf gut daheim.«

Ich gab ihm beim Eintreten noch einmal die Hand.

»Auf morgen!« wiederholte ich heiter, »da seh ich dich also eigentlich wieder. Denn heut haben wir uns ja noch keineswegs wiedergesehen. Zwei Stimmen im Dunkeln! Zwei Stimmen, die dem Wiedersehen voraus gelaufen sind. — — Und die nun aufhören müssen zu schwatzen.«

»Gute Nacht, Adine, Nimm die Hand fort, du klemmst dich,« sagte er beim Schließen der Thür. Das klang so nüchtern und ängstlich, daß ich unwillkürlich noch einmal zwei Finger in die Thürspalte steckte. Ich rief hinaus:

»Ich muß dir noch sagen: es ist schön, daß wir uns getroffen haben — im Schneegestöber am Hause. Es ist ja nur ein Zufall, aber grade darum ist’s schön.«

Die Thür fiel ins Schloß. Einen Augenblick lang schien Benno draußen noch still zu stehn, wie wenn er lauschte, — dann knisterte der Schnee unter den langsam sich entfernenden Schritten.

Auch ich, drinnen im schwach erhellten Hausflur, stand noch und horchte, — ich horchte noch auf die beiden verklungenen Stimmen im Dunkeln, als ob sie mir ein langes Märchen erzählten, und eigentlich ein neues Märchen, — meine frohe, fast übermütige Stimme, die weit heller als die seine, und dann seine gedämpfte, zögernde Stimme, aus der so vieles — so seltsam vieles unter den alltäglichen Worten hervorsprach, und die Worte förmlich leer und sinnlos machte durch diesen Unterklang —.

— — — — — — — — — — — — — — Am nächsten Tage wurde ich durch einen langgezogenen schrillen Glockenton geweckt, der aus einem der Arbeitshöfe des Zuchthauses herüberschallte.

Meine Mutter, im großen Ehebett an der gegenüberliegenden Längswand, schlief noch, oder that so, um mich nicht zu stören. Durch das Fenster schimmerte hellgrau das Mor­genlicht über die ausgeblichenen Cretonnevorhänge mit ihren lustigen grünen Blumen und Vögeln, und jedes einzelne der alten Möbelstücke sah mich vertraut und

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