Keine Weihnachtsgeschichte - Page 5

Bild von Dieter J Baumgart
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ist ein Thema. Er wird sie gleich darauf ansprechen, gleich, wenn sie zur Tür hereinkommt. Und er muß frisch und munter wirken! ‘Frisch und munter – verdammt! Ich muß das in den Griff bekommen, sonst...’ Aber vorerst einmal münden seine Überlegungen in einen Brei aus Argumenten, Gegenargumenten, Folgerungen, Mutmaßungen.
     Die gedämpften Bahnhofsgeräusche, der Widerhall von Lautsprecherdurchsagen, das eintönige ‘ratteratack - ratteratack’ der gelegentlichen Güterzüge, werden von einem Spielautomaten übertönt, der an der Wand neben der Garderobe unaufhörlich summt und klappert. Gelegentlich scheppert ein kleiner Gewinn in die Blechlade. Häufiger jedoch hört man den satten Aufschlag der eingesetzten Münzen im Speicher – Fünfmarkstücke, konstatiert Werner Faust, indem er die Geräusche eher automatisch als bewußt registriert. „Kassieren wir immer gleich!“
     An einem der Nebentische hat ein Gast Platz genommen. Werner Faust fixiert das Kognak-Glas: Nur kein Interesse bekunden. Am Ende wird er noch in ein Gespräch verwickelt. „Alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden – gegen Sie verwendet...“ Wie kommt er denn darauf? Else Hebenauer fällt ihm wieder ein: “Sie hatten um zweiundzwanzig Uhr noch einen Termin am Hauptbahnhof, Herr Faust, können Sie uns das bitte erläutern?“ Das Tribunal. Diesmal sind es keine einzelnen Gesichter, sondern Fakten, die sich teilnahmslos und unerbittlich vor ihm aufbauen. „... können Sie uns das bitte erläutern?“
     Der Spielautomat gibt eine Tonfolge von sich. ‘Hauptgewinn?’ denkt er und schaut auf. Nein, der Spieler hat aufgegeben, der Automat läßt wieder seinen Lockruf ertönen, unterstützt von flimmernden Lichterketten. ‘Warum installieren sie keine Weihnachtsmelodie – und als Hauptgewinnsymbole Weihnachtsmänner? Weihnachtsmänner kassieren immer gleich ...’ Seine Gedanken sind wieder bei diesem ersten Donnerstag im Dezember. ‘...oder ich erschieße das Kind, sofort!’
     „Jutta –!“ Der Schuß. In Zeitlupe dringt das Projektil in die Larve aus Pappmaché ein. “Wenn Sie die Video-Aufnahme sehen möchten?“ Das immer etwas unbeteiligt wirkende Gesicht des Personaldirektors taucht vor seinem geistigen Auge auf: ‘Glattrasiert – nein, das ist kein Weihnachtsmann. Nein, der nicht. Obwohl – obwohl, eine Maske trägt er auch. Aber keinen Bart. Nein – nein, keinen Bart, keinen Bart...’
     Wieder hat sich ein Gast am Spielautomaten eingefunden. Die Scheiben mit den Symbolen setzen sich nacheinander in Bewegung. Diesmal ist es ein älterer Herr, dunkler Anzug mit Weste, glattes, grausilbriges Haar, hinten leicht gelockt. Unkontrolliert saugt sich der Blick von Werner Faust an dieser Gestalt fest, als ob er sie später beschreiben soll. Ob der Mann hinter der Maske auch so aussah? Oder ist er... ‘Verdammt! Der ist tot – tot – tot ...’
     „Achtung, eine Durchsage: Der Schnellzug aus Kopenhagen über Hamburg, Hannover, Frankfurt am Main, planmäßige Ankunft um zweiundzwanzig Uhr und zehn Minuten, Weiterfahrt nach Mailand um zweiundzwanzig Uhr und siebzehn Minuten, hat voraussichtlich neunzig Minuten Verspätung.“
     Der Mann am Spielautomat schaut auf seine Uhr, zuckt resignierend die Schultern und setzt sich an einen Tisch in Sichtweite des Automaten, der inzwischen weiterläuft. Wie in Trance beobachtet Werner Faust jetzt die rotierenden Scheiben, seine Augen scheinen sich förmlich festzusaugen.
     „Klack – klack“, eben ist ein Spiel beendet. Das Geräusch fallender Münzen im Innern des Gerätes.
     „Tock“, das nächste Spiel.
     „Tock“, die erste Scheibe stoppt. ‘Kein Weihnachtsmann!’, konstatiert Werner Faust. Im gleichen Augenblick aber macht er eine Feststellung, die ihn hellwach werden läßt: Ausgelöst durch das ‘Tock’ und den Stillstand der ersten Scheibe, sieht er für Bruchteile einer Sekunde die Symbole der zweiten Scheibe klar voneinander trennbar am Fenster vorbeiziehen. Unfähig, sich zu bewegen, starrt er auf den Kasten.
     „Der läßt sich nicht hypnotisieren. Es ist auch gleich, ob ich dazwischenpfusche oder nicht –.”
Die Stimme des Gastes am Tisch hinter ihm springt ihn an. Mühsam versucht er, das Zittern, das ihn plötzlich überfällt, zu unterdrücken.
     „Ach ich – ich war ganz in Gedanken...“, erwidert er und ärgert sich schon über seine dümmliche Entgegnung. Gleichzeitig warnt ihn eine innere Stimme: ‘Du mußt dich zusammenreißen, sonst bist du wehrlos –. DU DARFST KEINEN FEHLER MACHEN!’ Er dreht sich um, zwingt sich, den Anderen unbefangen anzusehen.
     „Warten Sie auch auf den Kopenhagen-Express?“ hält ihn die Stimme seines Gegenübers fest.
Er muß sich stellen, keine Ausflüchte, keinen Fehler machen.
     „Ja, ich erwarte Bekannte...“, sagt er leichthin und bereut seine Worte sofort. Immer mehr Lügen türmen sich vor ihm auf: „Was hatten Sie denn noch für einen Termin so spät am Abend? Und was waren das für Bekannte, die Sie mit dem Kopenhagen-Express erwarteten? WAS FÜR EIN LÜGENGEBÄUDE HABEN SIE SICH DA ZUSAMMENGEZIMMERT; HERR FAUST! Wenn Sie uns das bitte erläutern könnten?“
     „Tock – tock – tock“ meldet der Spielautomat einen Gewinn.
     „Sehen Sie“, setzt der andere das Gespräch fort, „es kommt, wie es kommt. Und mit Röntgenaugen würden Sie auch nur die Innereien dieser Teufelsmaschine sehen. Manchmal denkt ja einer, daß er sie überlisten kann, aber ...“
     „Ja, ja –”, steuert Werner Faust unverbindlich bei, während die innere Anspannung fast unerträglich wird: ‘Mein Gott, kann der nicht endlich aufhören?’ Er vermeidet es, weiterhin den Automaten zu fixieren. Nur kein neues Gesprächsthema anbieten. Aber der Fremde läßt nicht locker. Anscheinend sucht er Gesellschaft um die Wartezeit zu überbrücken. Jetzt steht er auf, kommt mit dem Glas Bier in der Hand an seinen Tisch.
     „Sie gestatten? So vergeht die Zeit doch etwas schneller.“
     Werner Faust sitzt wie ein Kaninchen in der Falle. Aufstehen und weggehen ist nicht möglich. Er erwartet ja Bekannte mit dem verspäteten Kopenhagen-Express. Er hat nur den einen Gedanken: ‘Keinen Fehler machen – du kannst dir keinen Fehler mehr leisten.’ Er gießt den restlichen, inzwischen kalten Kaffee in die Tasse, zieht sie etwas näher zu sich heran und stellt das leere Kännchen auf das kleine Tablett.
     „Wissen Sie, es gab mal einen, einen Lehrer, ich glaube Studienrat war er. Der hat’s gekonnt. Der hat tatsächlich Zeitlupe geguckt ...“
     Mit lautem Klirren rutscht der Deckel vom Kännchen. Nur unter Aufwendung äußerster Konzentration schafft es Werner Faust, das leere Kännchen wieder auf den Tisch zu bringen. Seine Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt.
     „Der hat gedacht, er

Veröffentlicht / Quelle: 
Flugenten - 19 unordentliche Geschichten (Buch)

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