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könnte davon leben!“ fährt sein Tischnachbar unbeirrt fort. „Erst bekam er Lokalverbot, und dann haben sie die Zufallsgeneratoren in der Stopautomatik ausgetauscht. Für den Fall, daß noch mehr Spezialisten auftauchen, die nicht so auffällig zu Werke gehen!“ Lachend schaut er auf die Uhr. „Ich geh’ mal eben nach nebenan –”, sagt er abschließend und steuert auf die Toilettentür zu.
Die ist kaum ins Schloß gefallen, da springt Werner Faust auf, greift seinen Mantel und hastet durch die Bahnhofshalle auf den Vorplatz, wo er schließlich den Mantel überwirft und feststellt, daß der Schal noch an der Garderobe hängt. Nun, den wird er abschreiben müssen –. Egal, da ist ein Gedanke, den er verfolgen muß. Dieser Mensch! Fast wäre ihm das Kännchen aus der Hand... ‘Hab’ ich überhaupt bezahlt?’ Siedendheiß durchzuckt es ihn. ‘Ja, natürlich, gleich zu Anfang – verdammt, das hätte noch gefehlt. Zechprellerei! Das wär’s dann wohl gewesen.’ Er überquert den menschenleeren Bahnhofsvorplatz. „Kassieren wir immer gleich –“, überfällt ihn wieder die Bemerkung des Kellners. „...hat auch seine Vorteile“, lacht er bitter auf, „sonst hätte ich jetzt Probleme!“ ‘Als ob du noch nicht genug hättest!’, kommt das Echo, tief aus seinem Innern. Aber da war noch etwas, etwas ganz Wichtiges. Krampfhaft versucht er, Ordnung in den Wust von Gedanken und Empfindungen zu bringen.
‘Eine gute Planung ist die beste Entscheidungsgrundlage –!’ Wieso kommt ihm das jetzt in den Sinn? Was hat er denn noch zu entscheiden? Entschieden haben andere... „Ich bin gebeten worden, bis zum fünfundsechzigsten ...“
Das war’s! Seine berufliche Planung ist wie ein Kartenhaus zusammengefallen. ‘...weil ich einen Fehler ...ich hab’ die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Und dann hat er zugeschlagen, der Wirt –. Kassieren wir immer gleich... langfristigen Planungen zufolge... Umsatzrendite... Kredite... Vermögensanlagen... Umschichtungen... Wertberichtigung... Wertberichtigung...’ Seine Gedanken kreisen um den Entwurf zum zweiundsiebziger Geschäftsbericht. Aber was, um alles in der Welt, hat er noch damit zu tun? Aber natürlich: „...Herr Faust, überfliegen Sie eben noch den Bericht zur Lage? Ich weiß nicht, ob wir das Devisengeschäft so in den Vordergrund... Sie wissen ja, vier Augen sehen mehr als zwei –. Na ja, hat aber Zeit bis Montag.“
‘Das war gestern – das dumme Geschwätz von gestern! Was hab’ ich denn noch damit zu tun?’ Er spürt, wie ihm das Blut in den Kopf steigt. Wertberichtigung! Ja, er wird eine Wertberichtigung vornehmen. Aber anders! Eine ganz persönliche – .
‘Du wirst dein Maul halten!’ ist da wieder diese Stimme, die aus dem Bauch kommt, ‘der andere ist tot ...’
‘Nein, nein, nicht wieder das!’ Werner Faust versucht krampfhaft, einen klaren Gedanken zu fassen. Wer war der Mann hinter der Pappmachélarve? Der Zettel: RECHTE HAND AUF DEN TISCH ...
„Jutta –!“
Es muß schon nach Mitternacht sein. Der Nieselregen hat aufgehört, die Straßenlaternen haben farbige Lichthöfe. Werner Faust durchquert einen Park, ohne zu wissen, wohin er geht. Das Quietschen einer Straßenbahn, die hinter dem Parkausgang eine Kurve durchfährt, ruft ihn in die Wirklichkeit zurück. Automatisch liest er am letzten Wagen das Fahrtziel: 14 Ottersheimer Platz. ‘Ah ja, die Nachtlinie. Die wird da wenden und fährt dann ins Depot Nordstraße.’ Diese Überlegungen haben irgendwo etwas Tröstliches –. Da ist ein Rest von Alltag, der funktioniert noch in diesem Chaos: Der Fahrplan, exakt und ohne Fehler. ‘Ich brauche einen Fahrplan. Von denen laß’ ich mich nicht aufs Abstellgleis schieben – von denen nicht!’ Mühsam hält er sich unter Kontrolle. Fahrplan – Weichen stellen – nicht aufs Abstellgleis – planen – PLANEN!
„Ihre Zukunft planen – fragen Sie Ihre Bank“ Unversehens findet er sich vor seiner Geschäftsstelle wieder und schaut auf die Uhr: ‘Halb eins’, überlegt er, ‘jetzt kann ich auch nach Hause fahren. Den Kognak hab’ ich wohl verarbeitet. – Und außerdem muß ich nichts erklären. Das hätte noch gefehlt: „Das Auto bei der Bank gelassen? Hast du noch getrunken? Warum?“
Das hätte wirklich noch gefehlt!’ Nein, von jetzt ab wird geplant, jeder Schritt, nichts wird dem Zufall überlassen. Der Gedanke beflügelt ihn. Werner Faust nimmt das Ruder wieder in die Hand. Und irgendwo, in einem Winkel seines Hirns, geistert die Bemerkung seines Tischnachbarn im Bahnhofsrestaurant herum: „Der hat Zeitlupe geguckt!“
Die Plätze vor dem Haus sind besetzt. Er parkt in einer Nebenstraße, innerlich einerseits ganz dankbar, daß ihm noch Zeit bleibt, sich zu sammeln. Andererseits, nein, ihm ist gar nicht wohl in seiner Haut. Er hat diesen Weg nicht gewählt. Aber er muß ihn weitergehen. ‘Keinen Fehler machen – ich darf keinen Fehler machen...’
Er öffnet leise die Wohnungstür. Der Fernseher läuft. Aus dem Wohnzimmer hört er das Leitmotiv aus „Exodus“. Inge liebt diesen Film, versäumt keine Gelegenheit, ihn zu sehen. ‘Das ist gut’, denkt er, ‘glatter Übergang zur Tagesordnung.’
„Hallo“, sagt er, „na, sind sie schon in Israel?“ Das soll betont beiläufig klingen. Aber so recht klappt das nicht. Selbst ihm dröhnen die Worte im Kopf.
„Werner, da bist du ja!“ Die Besorgnis in ihrer Stimme ist nicht zu überhören.
„Ja – es ist doch noch etwas später geworden –. Ich hab’ noch Bekannte getroffen.“ Er lauscht seinen eigenen Worten nach, bemüht sich, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. „Ist das die Originalfassung?“
„Du – Werner...“
„Inge, ich bin schrecklich müde. Stört’s dich, wenn ich schon schlafen gehe?“
„Nein, überhaupt nicht – geh’ nur. Gute Nacht.“ Sie wendet sich wieder dem Bildschirm zu.
Er geht ins Bad. ‘Na gut, na schön, sie ist sauer, daß ich nicht angerufen habe... Himmel noch mal, ich hab’ wohl auch mal den Kopf voll! Damals, als sie mit ihrer Freundin... Ich hab’ schließlich auch nichts gesagt!’ Unbewußt steigert er sich in eine durch nichts begründete Wut auf seine Frau. Oder vielleicht hat es damit zu tun, daß da ganz im Innern so ein Gefühl ist, das ihm leise, aber unüberhörbar sagt, daß er ihr Unrecht tut? ‘Ich muß da durch’, versucht er, sich vor sich selbst zu rechtfertigen, ‘diese Schießbudenfiguren!’ Jetzt wendet sich sein ganzer Zorn gegen Kollegen und Vorgesetzte.