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Wütend bearbeitet er seine Zähne. ‘Zahnpasta ist auch fast alle! Und natürlich keine neue im Haus ...’ Es kostet ihn große Anstrengung, sich zusammenzureißen. Er möchte die Fläschchen, Dosen und Schachteln mit einer Handbewegung von der Ablage fegen, Lärm machen, schreien: ‘Ihr Schweine! Ihr verdammten Schweine!’
...das Geräusch aus dem Wohnzimmer –, von dem er nicht weiß, ob es aus dem Lautsprecher kommt.
Oder ist es Inge, die leise weint?
Dieses Geräusch wird ihn noch lange verfolgen. Er will das nicht hören. Erst muß er sich im klaren sein, wie es weitergehen soll. ‘Eine gute Planung ist die beste Entscheidungsgrundlage.’ Er wird planen – und er wird keinen Fehler machen. Sorgfältig hängt er das feuchte Handtuch über die Heizung. Der Fernseher ist ausgeschaltet, aber das Licht brennt noch im Wohnzimmer. An der angelehnten Tür vorbei geht er ins Schlafzimmer, unterdrückt den Wunsch, noch ein paar Worte zu sagen und hat gleichzeitig das Gefühl, daß da etwas unwiderruflich zerreißt.
Natürlich ist an Schlaf nicht zu denken. ‘Morgen kommt Frau Hebenauer –!’ springt ihn der Gedanke an den nächsten Tag wieder an. ‘Die wird mich garantiert auf die Begegnung in der Bahnhofshalle ansprechen – und die anderen werden mithören...’ Dann steht da wieder diese Bemerkung im Raum: Zeitlupe gucken – der hat Zeitlupe geguckt! Etwas daran fasziniert ihn, scheint von unendlicher Wichtigkeit zu sein. Er versucht, sich zu konzentrieren, fällt schließlich in einen unruhigen Schlaf. In den anschließenden wirren Träumen kehrt eine Szene immer wieder: Er steht im Führerstand einer Straßenbahn und umrundet den Ottersheimer Platz. Immer wenn er sich der Abzweigung Nordstraße, zum Depot, nähert, dreht er wie wild die Kurbel, als sei sie ein Lenkrad. – Nur nicht ins Depot –! Quietschend rattert die Bahn über die Weiche und umrundet den Platz ein weiteres Mal. Er wirft einen Blick zurück in den Fahrgastraum. Da sitzt ein gutgekleideter Herr, schaut ihn unverwandt an und sagt: „Der hat Zeitlupe geguckt...“
Mit einem Ruck bleibt die Bahn stehen und ein nervtötendes Piepsen dringt aus dem Fahrpult, übertönt die letzten Worte des einsamen Fahrgastes, der immer kleiner wird und schließlich im nun unendlich langen Waggon verschwindet. Wie unter einem inneren Zwang wendet Werner Faust den Blick wieder nach vorn und erschrickt: Draußen zwischen den Schienen, keine zwei Meter vor seinem Zug, steht Else Hebenauer und droht schelmisch mit dem Zeigefinger. Sie sagt etwas, aber auch ihre Worte werden von dem schmerzhaft lauten Piepsen übertönt. Verzweifelt versucht er, Schalter und Knöpfe zu erreichen, um das Piepsen abzustellen. Aber es gelingt ihm nicht: er hat weder Hände noch Arme.
‘Du hast einen Fehler gemacht! Irgendwo hast du einen Fehler gemacht!’ dröhnt es in seinem Kopf. Gleichzeitig wird ihm bewußt, daß er um ein Haar die alte Frau Hebenauer überfahren hätte. Mit aller Macht wirft er sich gegen das Fahrpult, das krachend auseinanderbricht. Dann ist es still. Werner Faust erwacht schweißgebadet. Die Bettdecke liegt auf dem Boden, der kleine Beistelltisch mit dem Weckradio ist umgestürzt. Er tastet neben sich: „Inge ...“ Dann hört er die Geräusche aus dem Bad. Langsam findet er in die Wirklichkeit und stellt fest, daß sie sich nur unwesentlich von den Traumgespinsten unterscheidet. Klar stehen die Ereignisse des vergangenen Tages wieder vor seinem geistigen Auge.
„Werner – bist du wach?“
Ja, Werner Faust ist wach. Was aber noch viel wichtiger ist: er ist auch wachsam, er hat sich wieder im Griff, er wird keinen Fehler mehr machen. Er akzeptiert, daß alles, was bisher sicher schien, fragwürdig, wenn nicht sogar hinfällig geworden ist. Also zieht er seine Schlüsse daraus. Und dazu gehört vor allen Dingen eine Neubewertung seiner Zukunftsperspektiven. Über allem aber schwebt ein Begriff, den er nicht so recht einordnen kann, der in seiner Bedeutung noch nicht ausgelotet ist: Zeitlupe gucken. Nein, ganz gewiß wird er sich nicht an Spielautomaten vergreifen...
„Guten Morgen, Werner...“
„Morgen, Inge – hast du gut geschlafen?“
„Na ja...“
„Du, Inge – tut mir leid wegen gestern abend. Weißt du, ich hatte den Kopf so voll... Wir machen den Geschäftsbericht mit einer neuen Agentur. Image-Pflege, mehr Bilder. Na ja, und das Weihnachtsgeschäft fängt auch an...“ Eine innere Stimme mahnt ihn zur Vorsicht: ‘Übertreib’ es nicht, leg’ dich nicht fest, überlege, was du sagst.’ „Ich werde öfter in der Zentrale sein müssen. – Abends, meine ich...“ Ja, das ist gut!
„Werner, du mußt dich nicht entschuldigen. Es ist nur – ich hab’ mir einfach Sorgen gemacht.“
„Ich...“
„Komm, du mußt nicht jedesmal anrufen. Wenn Du stärker am Geschäftsbericht beteiligt bist, kann das nur gut sein, nicht wahr?“
„Ja klar, es – es ist natürlich auch mit mehr Arbeit verbunden. Kann ich mal den Zucker haben? – Danke.“
Nein, er kann es ihr nicht sagen, noch nicht. Erst muß er mit sich selbst im reinen sein. Das muß er allein durchstehen. Später...
„Du, Werner...“
„Ja?“
„Wenn dir das morgen nicht paßt, in der Stadt, Möbel angucken...“
„Doch, Inge, das machen wir. Und anschließend gehn wir essen, ja?“
„Werner, du bist ein Schatz!“ Inge gibt ihm einen Kuß.
Für einen Moment kommen ihm Zweifel. An diese Zweigleisigkeit wird er sich noch gewöhnen müssen. Und an die Weihnachtsmänner! Schnell schüttelt er den Gedanken ab. Der morgendliche Gang durch die Geschäfts- und Tresorräume verläuft wie üblich, vielleicht etwas wortkarger. Die Situation ist dem Zweigstellenleiter sichtlich unangenehm. Werner Faust bemüht sich, locker und gelassen zu erscheinen. Die Mittagspause nutzt er zu einem längeren Spaziergang. Eine blasse Herbstsonne spiegelt sich in den verbliebenen Pfützen, verbreitet eine unbestimmte Ahnung von Vergänglichkeit. Werner Faust durchquert eine Parkanlage und hat das Gefühl, über einen Friedhof zu gehen. Zweifel und Mutlosigkeit befallen ihn.
‘Wozu das Ganze?’ fragt er sich. ‘Hat das denn einen Sinn? Lohnt es den Einsatz?’ Das Gespräch mit Else Hebenauer kommt ihm wieder in den Sinn. Kurz vor elf kam sie in die Bank, sprach ihn aber nicht auf den gestrigen Abend an. Was hätte er ihr raten sollen? ‘Spielen Sie doch mal im Lotto,