Keine Weihnachtsgeschichte - Page 10

Bild von Dieter J Baumgart
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Stimme ist heiser vor Anspannung, als er sich an die Dame am Informationsschalter wendet:
     „Ich möchte bitte einen Safe anmieten.“
     „Gern, wenn Sie bitte einen Moment Platz nehmen wollen?“
     Verdammt, er hat vergessen, die Brille aufzusetzen! Jetzt ist es zu spät. „Bitte, was meinten Sie?“
     „Wenn Sie bitte einen Augenblick Platz nehmen möchten? Ich werde den Kollegen rufen, der Ihnen weiterhilft.“ Sie greift zum Telefon.
     „Danke – danke, ich stehe gern.“
     Er wirft einen Blick in die Runde, kein bekanntes Gesicht in der Nähe. Wenn er jetzt die Brille aufsetzt? Wie zufällig nimmt er einen Prospekt vom Tresen in die Hand und tastet dann nach der Brille, setzt sie auf. – So, das wäre geschafft. Er atmet tief durch.
     Die Dame an der Information legt den Hörer wieder auf. „Es wird fünf Minuten dauern. Wenn Sie sich bitte gedulden wollen?“
     „Ja, vielen Dank!“
     Er setzt sich nun doch hin und beobachtet den Eingang. Etwa fünf Meter von ihm entfernt ist die Kasse. Er wirft einen Insider-Blick hinüber und stellt Vergleiche an: ‘Mein Gott, in dieser Halle hätten alle Filialen von Rosenbäumer & Cie. Platz –.  Nein’, sinniert er, ‘das wäre wohl nichts für mich. Zu anonym, eine elegante Bahnhofshalle  –  ein Geldverschiebebahnhof!’ Dann fällt ihm ein, warum er überhaupt hier ist. Er wendet den Blick zum Eingang – und erstarrt: Ein Weihnachtsmann, an der Hand ein kleines Mädchen, steuert direkt auf die Kasse zu.
     „Du Schwein! Du verfluchtes Schwein!“ brüllt Werner Faust, springt auf, stürzt sich auf den völlig überraschten Weihnachtsmann und reißt ihn zu Boden.
     „Opa – Opa...“, schreit das Kind auf und schaut fassungslos auf die am Boden liegenden Männer.

     Eine Stunde später erinnert nichts mehr an den Vorfall. Der alte Herr mit dem schlohweißen Bart, der lediglich seiner Enkelin zuliebe den Nikolausmantel angezogen hatte, um den Vater des Mädchens in der Bank zu besuchen, liegt mit einem Herzanfall auf der Intensivstation.
     Werner Faust ist in Polizeigewahrsam. Er zittert noch immer am ganzen Körper und ist nicht in der Lage, auch nur einen zusammenhängenden Satz zu sagen. Der Tathergang läßt sich dank der Videoüberwachung in der Schalterhalle der Bank nachvollziehen, doch die Beweggründe bleiben im Dunkeln. Auch der von der Polizei hinzugezogene Arzt steht vor einem Rätsel. Aufgrund des erkennbaren Realitätsverlustes und der daraus offenbar resultierenden Fremdaggressivität wird Werner Faust in das zuständige Landeskrankenhaus eingeliefert und noch am frühen Abend dem diensthabenden Arzt in der Psychiatrie vorgestellt.

     Als Inge Faust gegen zweiundzwanzig Uhr nach Haus kommt, findet sie eine Nachricht vom Polizeirevier VII vor, mit der Bitte, umgehend dort anzurufen. Um dreiundzwanzig Uhr hat sie einen Gesprächstermin im Landeskrankenhaus.
     „Sie sind in etwa über den Vorfall informiert?“ Professor Wagenfeld schaut sein Gegenüber aufmerksam an.
     Inge Faust kann es immer noch nicht fassen: „Die Polizei – auf dem Revier, meine ich, ja. Mein – mein Mann hat einen alten Herrn zusammengeschlagen...“
     „Nun ja, zusammengeschlagen nicht gerade, aber... Sehen Sie, ich versuche, mir ein Bild zu machen. Ihr Mann ist ja wohl nicht das, was man einen Schlägertyp nennt. Er war in der Bank, um einen Safe zu mieten. Wußten Sie davon?“
     „Nein.“
     „Haben Sie Kinder?“
     „Nein, wir – mein Mann...“
     „Sagen Sie, Frau Faust, hat Ihr Mann etwas gegen Weihnachtsmänner?“
     „Nein, nicht, daß ich... Ich weiß nicht, es ist etwa ein Jahr her. Mein Mann ist – war Kassierer in einer Privatbank, Rosenbäumer und Cie. – Ja, ich glaube, es war im Dezember vergangenen Jahres. Da wurde die Geschäftsstelle, in der er arbeitet, überfallen. Der Täter hatte sich als Weihnachtsmann verkleidet. Er hat sich dann selbst umgebracht, noch in der Bank. Aber mein Mann hat nie mehr davon gesprochen.“
     „Haben Sie seit der Zeit Veränderungen an ihm bemerkt?“
     „Nein, eigentlich nicht. Das heißt... So seit fünf – sechs Wochen. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. – Also er hat seitdem auch abends viel für die Bank zu tun. Sachen, die unter Verschluß sein müssen und so...“
     „Seit fünf, sechs Wochen, sagen Sie?“
     „Ja, er kam eines Abends sehr spät nach Hause. Ich glaube, da fing es an.“
     Der Psychiater steht auf, geht zum Wandschrank und holt einen Schal hervor: „Kennen Sie den zufällig?“
     „Ja, der gehört meinem Mann. Warum?“
     „Ihr Mann hat ihn verloren. Vor etwa anderthalb Monaten, abends im Hauptbahnhofsrestaurant. Wir hatten uns da kurz miteinander unterhalten. Dann muß er, wie man so sagt, fluchtartig das Lokal verlassen haben. Als ich von der Toilette kam, war er weg. Nur der Schal lag noch am Boden. Ich erinnere mich daran, weil er die ganze Zeit über einen etwas abwesenden Eindruck gemacht hatte – ja, verschreckt und abwesend. Seltsam, wirklich seltsam. Ich hatte das Gefühl, daß ich ihn noch einmal wiedersehen werde. Und das ist ja nun wohl der Fall...“ Er lächelt.
     Inge Faust ist den Tränen nahe: „Herr Professor, ich...“
    „Frau Faust, ich denke, wir bringen das wieder in Ordnung. – Nach dem zu urteilen, was ich bisher weiß... Nun, ich kann da natürlich noch keine endgültige Diagnose stellen. Ich vermute, daß Ihr Mann an Verfolgungswahnideen leidet, deren Ursache vielleicht in einem Kindheitstrauma zu suchen ist. Viele Menschen haben solche ‘seelischen Narben’, die dann unter ungünstigen Bedingungen wieder aufbrechen. Und der von Ihnen angesprochene Banküberfall kann durchaus als eine solche Bedingung gewertet werden. Aber da ist noch etwas. Und das hat mit dem Abend im Bahnhof zu tun. Ihr Mann ist psychisch vollkommen blockiert.“
     „Heißt das, daß mein Mann – geisteskrank ist?“
     „Nein, Frau Faust. Nach den Informationen, die wir bisher haben, ist das auszuschließen. Der Überfall war und ist für Ihren Mann zweifellos eine sehr starke seelische Belastung –. Er hat nie mehr darüber gesprochen, sagten Sie?“
     „Nein, nie mehr. Ich hatte auch nicht das Gefühl, daß er es wollte...“
     „Ah ja...“ Der Arzt macht einige Notizen. „Nun, mit Ihrer Einwilligung wird es sicher möglich sein, Akteneinsicht zu nehmen. Über die strafrechtliche Seite, denke ich, müssen Sie sich keine Sorgen machen. Dem alten Herrn geht es besser. Er ist noch auf der Intensivstation, aber... Ich gehe davon aus, daß Ihr Mann zum Zeitpunkt der Tat nicht zurechnungsfähig war –. Das kann auch dem gesündesten Menschen passieren. Etwas hakt dann einfach aus. Aber – wir werden das in den Griff bekommen, gemeinsam, meine ich. Es hängt auch sehr viel von Ihnen ab. Aber darüber können wir später reden. –   Ihr Mann schläft jetzt. Ich rufe Sie auf jeden Fall morgen an. Das Wichtigste ist, ihn zum Sprechen zu bringen... Kopf hoch, Frau Faust, wir schaffen das.“ Professor Wagenfeld hat eine Idee, und er gedenkt, sie gleich am nächsten Morgen in die Tat umzusetzen.
     Werner Faust hat eine traumlose Nacht hinter sich. Bruchstückhaft tauchen Erinnerungen an den vergangenen Tag auf. Aber einiges fehlt völlig. Weshalb liegt er in diesem fremden Zimmer? Draußen ist es hell, er hätte längst in der Bank... Wie ist er hier hereingekommen, hatte er einen Unfall? Zögernd betastet er seine Gliedmaßen. –  Nein, kein Verband, nichts...
     Die Tür geht auf: „Guten Morgen, Herr Faust, mein Name ist Wagenfeld.“
Werner Faust kommt diese Stimme bekannt vor. Langsam wendet er den Kopf und betrachtet den Eintretenden. Irgendwoher kennt er den Mann: Dunkler Anzug, grausilbriges Haar –. Er hat ihn schon einmal gesehen – Hauptbahnhof – Kopenhagen-Express –. Wieso kommt er auf Kopenhagen-Express? Da war etwas, etwas ganz Wichtiges...
     „Herr Faust, ist das Ihr Schal?“
     „M – mein Schal?“ Damit hat er nicht gerechnet! Aber die Situation ist da! Der Abend im Restaurant. Seine Flucht! Stein um Stein wächst eine Wand vor ihm auf, die ihn erdrücken wird. Etwas Schlimmes, etwas sehr Schlimmes ist geschehen. Darum...
     „Herr Faust, ich möchte gern, daß Sie mir erzählen, was an diesem Tag geschehen ist. Bevor wir uns im Bahnhofsrestaurant trafen – und danach ...“
     ‘Zeitlupe – Spielautomaten – DER HAT ZEITLUPE GEGUCKT! – das Roulette –‘ Die Erinnerung an die letzten Wochen, sein Doppelleben nimmt immer mehr Kontur an. Welche Rolle spielt er jetzt – in diesem Moment? Was will dieser Mann!?
     „Herr Faust, es ist alles in Ordnung. Ich möchte, daß Sie mir von dem erzählen, was Sie quält ...“
     Die beruhigende Stimme des Arztes verfehlt nicht ihre Wirkung auf ihn. Endlich ist da jemand, der ihn fragt! Zögernd, kaum hörbar, beginnt er: „Es – es ist eine lange Geschichte – es hat mit einem Weihnachtsmann zu tun...“
     „Aber es ist keine Weihnachtsgeschichte, nicht wahr?“
     Es ist die Wärme in dieser Stimme, die Werner Faust fortfahren läßt: „Nein, es ist keine Weihnachtsgeschichte!“

Veröffentlicht / Quelle: 
Flugenten - 19 unordentliche Geschichten (Buch)

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