Keine Weihnachtsgeschichte - Page 9

Bild von Dieter J Baumgart
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richtet sich darauf ein, zwei Leben nebeneinander zu leben.
     Da ist einmal der Werner Faust, wie ihn Inge, seine Frau, seine Kollegen, Vorgesetzte, Freunde und Bekannte kennen. Und da ist der andere, den nur er selbst kennt. Sein Schatten-Ich, das dem Augenblick entgegenfiebert, wo das Klickern der Elfenbeinkugel zum erstenmal die Zeitlupe auslöst. Er vermutet, daß der Effekt wesentlich mit der seelischen Anspannung zu tun hat. Also wird sich das ‘Training’ in Grenzen halten müssen. Nun, das wird sich zeigen. Erst einmal sind da noch zahlreiche Vorbereitungen zu treffen, was die theoretischen Kenntnisse und die Durchführbarkeit seines Vorhabens angeht. Über dem Aktionismus, der von ihm Besitz ergreift und jegliche Schuldgefühle im Keim erstickt, vergißt er nicht, Prioritäten zu setzen. Eine wichtige Voraussetzung ist Fachwissen, das Roulette-Spiel betreffend, und Erfahrung im Spielbankbetrieb. Möglichst wenig soll dem Zufall überlassen bleiben.– Eine gute Planung...
Auch seine äußere Erscheinung ist wichtig. Ihm ist klar, daß der Erfolg seines Vorhabens schließlich darauf basiert, daß der Werner Faust, der am Spieltisch steht, abgesehen von seinem Namen, keine Ähnlichkeit mit dem anderen Werner Faust hat. Da ein zu großer Aufwand gerade auf diesem Gebiet aber auch die Gefahr der Entdeckung erhöht, beschließt er, mit äußerster Vorsicht und einfachen Mitteln zu Werke zu gehen.
     In den nächsten Wochen sammelt sich, geschickt verborgen hinter meist unwichtigen Geschäftsunterlagen, allerlei an, was Werner Faust in abgelegenen Stadtteilen oder Vororten aufstöbert und als wichtig für sein Vorhaben erkennt. Wissenswertes über Roulette in Form von Fachbüchern, Spielplänen und Romanen findet sich da neben zwei ganz unterschiedlichen Brillen. Auch einen sportlichen Sakko mit passender Hose, etwas an ihm völlig Ungewohntes, hat er in einem Second-Hand-Shop in der Vorstadt erstanden. Besonders die Brillen verändern ihn, der bisher nie eine trug, ganz wesentlich. Und zu seinem Erstaunen stellt er fest, daß die 0.5 Dioptrien seine Sehschärfe positiv beeinflussen.
     Inzwischen hat er seine sich selbst auferlegte Doppelrolle so sehr verinnerlicht, daß die Dienstag- und Freitagabende, da ist Inge im Ikebana-Kurs, für ihn zum normalen Alltag mit umgekehrten Vorzeichen werden. Die Zahlenfolgen im Roulette kennt er inzwischen auswendig, verschiedene Spieltechniken hat er seinen besonderen Anforderungen angepaßt und übt sie ausgiebig. Trotzdem rechnet er stets mit unerwarteten Situationen und bleibt wachsam. Doch auch der alte Werner Faust kommt nicht zu kurz. Er weiß, daß alles davon abhängt, wie gut er beide Rollen spielt. Irgendwann, in nicht zu ferner Zukunft, wie er hofft, wird jene aus der Not geborene Kunstfigur wieder in der Versenkung verschwinden. ‘Sechs- bis Siebenhunderttausend’, rechnet er gelegentlich, ‘das wäre eine finanzielle Basis –. Eine Durchschnittsrendite um fünf Prozent – das sind rund Dreißigtausend – Zweitausendfünfhundert im Monat! Mehr als ich jetzt verdiene...’ Er wird ein eigenes Depot anlegen müssen. Einen Safe – richtig, er braucht einen Banksafe. Nun, das wird dann der erste Test in der Öffentlichkeit mit dem anderen Werner Faust sein.
     Diesen Auftritt bereitet er mit größter Sorgfalt und unter Beachtung aller Sicherheitsmaßnahmen vor. Wenn er sich probeweise an einem Dienstag- oder Freitagabend umzieht, betrachtet er sich kritisch vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer, achtet vor allem genauestens darauf, keinerlei Spuren zu hinterlassen. Die Anmietung des Banksafe soll gleichzeitig die Generalprobe für seinen Auftritt in den Spielbanken sein, und so achtet er auch peinlich auf alles, was von Wichtigkeit sein kann. Immer wieder paukt er das Schema der Roulettezahlen von 0 bis 36. Die Nachbarn sind in seinem fotografischen Gedächtnis gespeichert und in Sekundenbruchteilen abrufbar. Doch noch hat er die kleine Elfenbeinkugel nicht in der Schüssel kreisen lassen. Etwas hält ihn zurück, und er ist ganz und gar nicht darauf versessen festzustellen, was ihn daran hindert, diese auf so aberwitzige Art und Weise erkannte Gabe auf die Probe zu stellen. Mit um so größerer Intensität widmet er sich allen möglichen Situationen und spielt sie theoretisch durch. Wie jemand, der eine Bahnreise bis ins kleinste Detail vorbereitet, ohne sicher zu sein, daß irgendwann auch ein Zug fährt.
     In seinen Träumen sind einprägsame Filmszenen für ihn längst zur Pseudo-Wirklichkeit geworden: Mit der Grazie eines Scharfrichters beim Auslösen des Fallbeils, setzt der imaginäre Croupier die Schüssel in Bewegung und verkündet in einem Ton wie aus Bahnhofslautsprechern „faites votre jeu, s’il vous plaît!“ Die Zahlen werden immer größer, jagen an ihm vorbei, bis er nur noch Schwarz und Rot sieht. Dann das Sirren der Kugel, das zum Rauschen wird, in dem das „rien ne va plus“ des Croupiers untergeht. Es dröhnt noch in seinen Ohren, wenn er wach wird. Diese Träume setzen ihm mehr zu, als er wahrhaben will.
     Es ist inzwischen Mitte Dezember. Am Freitag wird er einen Safe mieten. Seine Wahl fällt auf eine Großbank in der Innenstadt. Viel Publikumsverkehr, in der riesigen Schalterhalle wird ihn niemand beobachten. Er entscheidet sich für die dunkle Hornbrille mit leicht getönten Gläsern und einen grauen, etwas altmodisch geschnittenen Anzug. Von der Zeit her ist es zu schaffen: Mit dem Taxi nach Haus, umziehen, Taxi zur Bank – ‘es darf nicht der gleiche Wagen sein’, überlegt er.  Nun, das Risiko ist nicht sehr groß. Zur Sicherheit wird er seine Kollegin bitten, ihn zu vertreten, falls es doch länger dauern sollte.
     Endlich ist es soweit. Freitag Mittag. Zehn Minuten nach eins ist er zu Haus. Im Flur trifft er die Nachbarin aus der zweiten Etage:
     „Tag, Herr Faust –. Na, da haben Sie aber Pech! Ihre Frau ist vor fünf Minuten wieder gegangen...“
     „Danke, Frau Marquardt, macht nichts!“
     Nun, auch für ein zufälliges Zusammentreffen mit Inge hat er vorgesorgt: Er hätte dann einige Akten mitgenommen und die Anmietung des Safe verschoben. Trotzdem, besser so, er will das endlich hinter sich haben. Er verzichtet auf den anderen Anzug – er könnte ja Frau Marquardt noch einmal begegnen – und beschränkt sich auf die Brille, die er aber erst kurz vor Betreten der Bank aufsetzen wird. Um zwanzig Minuten nach eins verläßt er wieder das Haus und geht bis zur Blankenfeldtstraße, wo die Aussicht größer ist, schnell ein Taxi zu bekommen. Er hat Glück und ist um halb zwei vor der Bank. Seine

Veröffentlicht / Quelle: 
Flugenten - 19 unordentliche Geschichten (Buch)

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