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zu nehmen, diesen Eindruck, diesen Verdacht noch verstärkt. Warum, um Himmelswillen, hat denn keiner gefragt? Geradeheraus ins Gesicht: „Sag’ mal, Werner, hast du da die Finger mit drin gehabt?“
‘Warum?’ versucht ein Rest von klarem Verstand in seinem Kopf, die Frage zu beantworten, ‘Weil es völlig abwegig ist! Darüber macht man keine Scherze!’
‘Nein! Weil sie es für möglich halten!’ meldet sich wieder die Stimme der Panik. ‘Der andere ist tot. Du brauchst doch nur das Maul zu halten!’ Ja, sogar Inge, seine eigene Frau, hat sich verändert, meint er plötzlich festzustellen. Nie war sie von sich aus auf die näheren Umstände des Überfalls zu sprechen gekommen. Hat sie Angst, einer von ihr befürchteten ‘Wahrheit’ auf die Spur zu kommen? Fünfundvierzigtausend Mark! Das ist doch lächerlich. Ja, aber wissen denn die anderen, wie er darüber denkt?
Er hat das Gefühl, völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren. Am Ende hat er tatsächlich...?
Vielleicht verdrängt er die Wahrheit nur? Stünde er jetzt vor einem Tribunal, bestehend aus dem Personaldirektor, seiner Frau, den Kollegen, dem Zweigstellenleiter, – er würde alles zugeben, alles, nur um endlich Ruhe zu haben. Aber was? Was soll er denn zugeben? Immer, immer war er an irgend etwas Schuld. Nein, das ist nicht wahr, das war früher. Er ist doch kein Kind mehr. Er ist erwachsen, und er hat die Dinge im Griff.
„Ja, bin ich denn wahnsinnig?“
Seine eigene Stimme holt ihn in die Wirklichkeit zurück. Der Tagesabschluß stimmt auf den Pfennig genau. Werner Faust atmet tief durch. Das hätte noch gefehlt. Das wäre das Ende gewesen. Er beschließt, dieses Gespräch mit seinem Chef samt den sich daraus ergebenden Konsequenzen für sich zu behalten. Es ist das erstemal, daß er gegenüber seiner Frau etwas bewußt verschweigt, und er spürt, daß dies der falsche Weg ist. Aber sind nicht alle Wege falsch, zwischen denen er die Wahl hat? Sind es nicht alles Sackgassen? Die einen länger, die anderen kürzer. Hat er nicht vielleicht mit dieser Entscheidung die längste ausgewählt? Irgendwo hat er einen Fehler gemacht. – Aber wo?
Es ist inzwischen dunkel. Werner Faust steht vor dem Eingang der Hauptbahnhofshalle. Vor mindestens einer Stunde muß er die Bank verlassen haben und ziellos durch die Gegend gelaufen sein. Er geht in die Halle, taucht ein in die anonyme Menge wartender, hastender Menschen. Fremde Menschen, die ihn nicht beachten. Keine forschenden Blicke, die er im Rücken zu spüren glaubt. Niemand, der meint, aus seinem Verhalten, seinen Worten, seinem Schweigen irgendwelche Schlüsse ziehen zu müssen. Dann plötzlich die Stimme hinter ihm:
„Hallo, Herr Faust, woll’n Sie verreisen?“
Er fährt zusammen, dreht sich um, nein, wird umgedreht, wie unter Zwang: ‘Was du auch tust, du machst dich verdächtig!’ Da ist sie wieder, die Panik, die sich wie ein grauer Nebel in seinem Hirn ausbreitet und die Sinne lähmt.
„Ich bin’s, Else Hebenauer –. Sie war’n aber weit weg, Herr Faust. Ich hab’ Sie schon die ganze Zeit beobachtet. Ich war grad’ am Kiosk, Kaffee holen. Der ist ja hier immens teuer, aber ich hab’s einfach vergessen heute. Und morgens brauch’ ich meinen Kaffee, wissen Sie, sonst werd’ ich nicht wach. Meine Schwester hat immer gesagt, Else, hat sie immer gesagt ...“
„Tag, Frau Hebenauer, ‘tschuldigung, ich – ich war wohl in Gedanken –. Kann ich Sie mitnehmen?“
„Och nö, danke, is’ nett von Ihnen. Aber ich hab’ ja ‘ne Dauerkarte. Ich fahr’ gerne Bus. Wissen Sie, manchmal fahr’ ich stundenlang durch die Stadt. Man hat ja sonst niemand –. Und Kino ist so teuer geworden ...“
„Frau Hebenauer, ich will nicht unhöflich sein, aber – ich hab’ noch einen Termin.“
„Ach, so spät noch? Ja, ja, die Arbeit, die läßt einen nicht los. Und wenn man dann keine mehr hat, ist’s auch nicht recht, nicht wahr?“
„Tschüß, Frau Hebenauer!“
„Tschüß, Herr Faust! Morgen komm’ ich mal vorbei, wegen meinem Sparbuch. Ich wollte nämlich – aber da kann ich Sie ja morgen nach fragen.“
„Ja, natürlich. Also, tschüß Frau Hebenauer!“
„Ja, tschüß Herr Faust – tschüß! Und nicht so viel arbeiten!“ Sie droht schelmisch mit dem Zeigefinger.
Werner Faust ist schweißgebadet, zittert am ganzen Körper. Im Bahnhofsrestaurant findet er einen Platz ganz hinten, zwischen Garderobenständer und Toilettenvorraum. Er setzt sich so, daß ihn die Benutzer des WC nicht im Blickwinkel haben. Plötzlich fällt ihm ein, daß er ja zu Fuß zum Bahnhof gegangen ist. Der Wagen steht noch im Parkhaus neben der Bank. ‘Und ich biete ihr auch noch an, sie nach Hause zu fahren! Wie gut, daß die so gerne Bus fährt.’
„Sie wünschen, bitte?“
„Bitte –? Ach so, ja, einen Kaffee, Kännchen, ja. Und einen Kognak, doppelt, bitte.“
Er wird das Auto im Parkhaus lassen. Von hier aus ist es gleich, ob er nach Hause oder zum Parkhaus geht. Die Luft wird ihm guttun – und morgen früh...
Er hat einen Fehler gemacht, beginnt das Räderwerk in seinem Kopf wieder zu arbeiten. Wenn sie ihn verdächtigen, dann hat er einen Fehler gemacht. Natürlich können sie ihm nichts beweisen. Der Mann ist tot, ganz bestimmt. Aber würde der noch leben, würde der einfach behaupten...
„Bitte sehr, mein Herr, das macht sechzehn Mark fünfzig.“
„Das stimmt so!“ Werner Faust reicht einen Zwanzig-Mark-Schein über den Tisch.
„Vielen Dank, danke sehr. Es ist – so spät abends kassieren wir immer gleich...“, fügt der Kellner entschuldigend hinzu und rückt die Stühle am Nebentisch zurecht.
‘Kassieren wir immer gleich’. Irgendwie bleibt dieser Satz in der Luft hängen, gerät in andere Zusammenhänge, wird zu einer dumpfen Drohung: KASSIEREN WIR IMMER GLEICH!
Die erhoffte Wirkung des ungewohnten Kognaks bleibt aus. Nun, ganz bestimmt wird er nicht zum Säufer werden. Aber diese quälenden Gedanken. Frau Hebenauer wird zu einem Problem.
„Na, Herr Faust, haben Sie gestern noch lange gearbeitet? Sie sehen auch ganz schön müde aus!“
Die anderen werden die Ohren spitzen. Er muß ihr zuvorkommen. Das Sparbuch –, ja, das