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tritt Ruhe ein, er zieht sich zurück. »Man soll das alles begraben und das Mädel an den sicheren Ort bringen; je mehr Geheimnisse sie kennt, desto mehr fürchte ich sie. Ich habe für sie keine Schonung; in den Kerker mit ihr!«
Diese Kerker waren Türmchen, in welchen zwar die Luft sehr gut war, die aber so vergittert waren, daß es unmöglich war, daraus zu entfliehen. Hier begann die empfindsame Justine über ihr Los nachzudenken »O Gott!« rief sie aus, »wodurch habe ich solche Qualen verdient? Weil ich mich dem Verbrechen widersetze?« Sie[126] war ganz niedergeschlagen, kaum atmete sie noch, ganz ging sie in Schmerz auf. So vergingen einige Tage, ohne daß sie außer der Alten, die ihr die Nahrung brachte, jemanden sah. Eines Abends erschien Bandole und sagte ihr: »Mein Kind, übermorgen wird dir die Ehre meines Bettes zuteil. Wie,« setzte er hinzu, als er eine Bewegung des Schreckens bemerkte, »diese Nachricht erfüllt dich nicht mit Freude?« – »Sie erfüllt mich mit Schrecken. Glaubt Ihr denn, die Frauen können Euch lieben?« – »Mich lieben,« antwortete Bandole, »darüber wäre ich verzweifelt. Der Mann, der eine Frau ganz genießen will, darf nie ihr Herz zu gewinnen suchen, denn so wird er ihr Sklave und sehr unglücklich. Eine Frau ist nur dann köstlich zu vögeln, wenn sie uns von ganzem Herzen haßt, und der Mann, welcher alle Freuden der Wollust genießen will, darf nicht versäumen, sich der Frau möglichst verhasst zu machen. Glaubst du, daß die Asiaten, so erfahren in der Wollust, nicht wissen, was sie tun, wenn sie ihre Frauen einsperren? Glaube nicht, daß es die Eifersucht ist; es ist nicht zu denken, daß ein Mann fünf oder sechs Frauen auf einmal lieben und daher eifersüchtig sein kann; er tut es nur, um sie dadurch gegen sich aufzubringen, denn er ist überzeugt, je mehr er die Frau schmäht, je mehr sie ihn hasst, desto größere Wollust wird sie ihm bereiten.« – »Und wo ist das Zartgefühl?« – »Was hat das Zartgefühl mit der Liebe zu tun? Vergrößert es das Vergnügen? Nein, im Gegenteil, es vermindert die Empfindung, indem es dem Manne körperliche Schranken setzt zu Gunsten der Moral; das Zartgefühl ist der Schatten der Liebe, die Wollust der Körper. Alle zartfühlenden Liebhaber vögeln schlecht, sie entschädigen die Frau mit schönen Worten. Ich für meinen Teil, wäre ich eine Frau, ich würde es vorziehen, gequält und gut gevögelt zu werden, als täglich schöne Worte zu hören. Also, Justine, füge dich drein, als Schwache mußt du nachgeben.« Bandole entfernte sich und ließ die arme Justine in der Erwartung der schrecklichen Vergewaltigung zurück. Sie dachte darüber nach, ohne sich zu Bette zu legen, ans Fenster gelehnt. Da plötzlich hört sie Geräusch in dem Gestrüpp, das ihren Turm umgibt. »Oeffne!« ruft man ihr zu, »und habe keine Furcht; wichtige Dinge hat man dir zu sagen.« Justine streckt den Kopf vor und horcht! Auch der Schein einer Hoffnung ist schon köstlich in ihrer schrecklichen Situation. Man wiederholt dieselben Worte, sie erkennt zu ihrer Ueberraschung die Stimme Eisenherz', dieses berühmten Räuberhäuptlings, mit welchem sie zugleich die Conciergerie verlassen. »Unglücklicher,« sagt sie zu ihm, »was suchst du in diesem schrecklichen Hause?« – »Wir kommen eine Frau zu entführen, das ist unser einziger Zweck. Bandole ist ein Kerl wie wir, darum respektieren wir seinen Geschmack und sein Eigentum, aber die Frau, welche uns seine Agenten vor einem Monat entführt, müssen wir haben; sie muß sterben, weil sie uns grausam verraten hat.« – »Habe ich denn nicht dasselbe getan?« sagte Justine, »und[127] werdet Ihr mich nicht auch strafen, wenn ich in Eurer Hand bin?« – »Fürchte es nicht,« sagte Eisenherz, »gib uns die in die Hände, die wir suchen, und wir schwören dir Sicherheit, Schutz und Hilfe zu.« – »O Himmel, Ihr wollt, ich soll Euch eine Unglückliche zum Morde ausliefern?« – »Wenn du uns nicht hilfst, so dringen wir ohne dich ein und du bist unser erstes Opfer.« Da sah Justine ein, daß sie nur auf diese Weise, wenn sie nachgab, allen Gefahren entschlüpfen konnte und vielleicht könnte sie auch für das Weib Gnade erwirken. »Wohlan, ich bin bereit, Euch zu helfen.« – »Hast du einen Strick?« – »Nein.« – »Schneide deine Leintücher auseinander, binde sie zu einem Stricke zusammen und wirf es uns herunter.« Justine folgte. – »Zieh an!« rief man ihr zu. Eine Feile und eine seidene Leiter waren an den Tüchern angebunden und ein Zettel: Zerschneide mit dieser Feile die Gitter, befestige die Leiter und morgen zwischen zwei und drei Uhr in der Früh steige ohne Sorge herab, wir werden da sein. Du wirst uns die Tür des Hauses zeigen und dafür bekommst du die Erlaubnis, unbehindert fortzugehen, volle Verzeihung und eine Belohnung außerdem. Justine wollte noch einige Einwendungen machen, doch sie war schon allein. Ganz entschlossen, zerfeilt sie die Eisenstäbe, befestigt die Leiter und erwartet mit Sehnsucht die Stunde.
Endlich verkündet sie das Schlagen einer Uhr. Justine steigt auf das Fenster und gleitet auf der Leiter herab, leicht und geschickt, wie sie ist, rasch an dem Fuße des Turmes. »Justine, erkenne mich wieder,« sagte Eisenherz zu ihr und umarmte sie, »hier findest du einen Mann, der dich verehrt, und den du so grausam behandelst. Göttliches Weib, wie groß und schön bist du jetzt? Wirst du immer so grausam sein?« – »O, mein Herr, beeilen wir uns, der Tag kommt und wir sind verloren, wenn man uns hier sieht ... Ja, aber wirst du die Türe finden?« – »Gewiß, wenn du mir eines versprichst.« – »Was denn?« – »Das Leben der Unglücklichen, die ihr töten wollt, und meine Freiheit.« – »Deine Freiheit ist dir zugesichert, aber das erste ist unmöglich.« – »O, in welche Verlegenheit bringt Ihr mich, warum bin ich herunter gestiegen!« – »Der Tag kommt, Justine, du selbst hast es vorhin gesagt, keine Minute ist zu verlieren ...« – Justine schritt zitternd voran. – »Hier ist eine Pappel, die mein Zeichen ist,« sagte sie, »und an dieser bin ich vorbei; die Tür muß daher ganz in der Nähe sein.« Eisenherz und seine Genossen fanden sie auch wirklich