Justine oder vom Missgeschick der Tugend - Page 52

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Nichts ist so außergewöhnlich wie mein Geschmack; ich liebe nicht die Frauen, die Wollust allein ist mein Ziel; sie zu schwängern und die Frucht, die ich gesät, zu vernichten, ist mein Entzücken. Es gibt nichts, was mich in den Augen meiner Mitmenschen schuldiger machen könnte. Ist das ein Grund mich zu bessern? Keines falls! Was scheert mich die Achtung und die Meinung der Menschen, was ist diese Chimäre gegen meine Passionen? Was ich verliere ist ihr Egoismus, was ich gewinne, die höchste Wollust.« – »Die höchste, mein Herr?« – »Gewiß, die süßeste; sie ist umso süßer, je mehr sie sich von der gewöhnlichen Sitte entfernt. Nur in der Zerstörung aller dieser Schranken besteht die höchste Wollust.« – »Aber, mein Herr, das ist ja Verbrechen!« – »Welch leeres Wort, mein Kind, es gibt kein Verbrechen in der Natur; die Menschen glauben daran, denn sie haben alles dazu stempeln[122] müssen, was ihren Frieden stört; deshalb kann ein Mann dem andern Unrecht tun, niemals aber der Natur.« Hier wiederholte Bandole mit verschiedenen Worten Alles, was Rodin über den Kindesmord gesagt; er bewies ihr dabei, daß nichts Schlechtem dabei sei, über die Frucht, die man gepflanzt, zu entscheiden, und daß wir über nichts gegründetere Rechte haben. »Der Wille der Natur ist erfüllt, sobald die Frau schwanger ist; was kümmert es sie, ob die Frucht reif wird oder noch grün gepflückt wird.« – »O, mein Herr, niemals werden Sie eine Sache mit einem beseelten Wesen richtig vergleichen können.« – »Beseelt!« lachte Bandole, »sag mir, meine Liebe, was verstehst du darunter?« – »Die Seele gibt mir eine Ahnung von dem belebenden ewigen Prinzip, sie ist die irdische Ausstrahlung der Gottheit, welche uns ihr nähert und durch welche wir uns von den Tieren unterscheiden.« – Hier brach Bandole ein zweitesmal in Lachen aus. »Höre, mein Kind, ich merke, es verlohnt sich, dich aufzuklären:

Es gibt nichts Lächerlicheres als die Behauptung, die Seele sei etwas anderes wie der Körper. Verführt von dieser ersten Einbildung, glauben manche Leute, daß wir bei der Geburt eingepflanzte Ideen mitbringen. So haben sie denn die Seele als etwas vom Körper verschiedenes hingestellt, dem sie gleichzeitig die Herrschaft über den Körper einräumten; trotzdem sie rein körperlich ist, so behaupteten sie blödsinniger Weise, daß die Ideen Früchte der Gedanken sind, trotzdem sie, aus der Außenwelt stammend, diese erst gebildet haben. Jede Idee hat ihre Ursache und so kompliziert es ist, werden wir sie immer finden. Wenn wir daher die Ideen nur aus dem Materiellen schöpfen, wie können wir glauben, daß die Ursache derselben, unkörperlich ist? Es gibt keine Ideen ohne Sinne, so wie der Blinde keine Vorstellung der Farbe hat. Nein, Justine, in keinem Moment des Lebens handelt die Seele ohne äußeren Impuls; gekettet an die Materie, aus der wir bestehen, folgend unseren, äußeren Eindrücken, fügt sich die Seele, oder besser gesagt, was wir so nennen, inneren körperlichen Ursachen. Wir glauben, diese Seele schiebe, doch sie wird geschoben, vielleicht weil wir das, was sie treibt, für nicht genug mächtig halten, sie in Bewegung zu setzen. Der Irrtum kommt daher, weil wir unseren Körper für tot halten, während er ein empfindsamer Organismus ist, der Alles selbst empfindet und uns selbst das Gefühl des ›Ich‹ durch die aufeinanderfolgenden Eindrücke von außen verschafft; nur unsere Sinne verschaffen uns Kenntnis von der Außenwelt, und die Eindrücke, die diese auf unseren Körper durch unsere Sinne hervorruft, formen unser Gehirn und lassen das, was wir Seele nennen, denken und handeln; unser Verstand kann nur über das urteilen, was er kennt und er kennt nichts anderes als was er durch die Sinne in Erfahrung gebracht. Dies Alles beweist, daß auch die Seele den Gesetzen der Natur, den Gesetzen des Körpers folgt, mit ihm sich ändert und mit ihm zugrunde geht. Schlafend in der Kindheit, kräftig im[123] reifen Alter, vereist beim Greise. Seine Vernunft und sein Wahnsinn, seine Tugend und sein Laster sind Produkte der Außenwelt und ihrer Eindrücke auf den Organismus. Wie konnte man bei diesen Beweisen, daß Seele und Körper ein und dasselbe sind, glauben, daß der eine untergeht, während die andere ewig lebt! die Tölpel, welche die Idee einer von den Naturgesetzen unabhängigen Seele konstruierten, die Gesetze der ewigen Umgestaltung leugneten, folgerten aus diesen falschen Ideen, daß auch das Weltall eine Weltseele haben müßte und nannten sie Gott. Alle die Religionen und lächerlichen Fabeln, die aus ihnen entsanden, leben von dieser ersten Widernatürlichkeit Daher die romantische Idee von Lohn und Strafe nach dem Tod, die widerlichste dieser Ideen. Denn wenn die Seele von Gott stammt, wie kann man sie strafen oder belohnen, da sie ja an den Körper gefesselt und daher nicht frei ist? Nichts ist leichter zu erfassen als die Idee der Vergeltung. Sie hindert den Starken, tröstet den Schwachen. Bedarf es mehr zu ihrer Verbreitung? Ueberall sind die Menschen gleich, überall haben sie dieselben Schwächen und die gleichen Irrtümer. Der Mensch möchte ewig leben, der Wunsch wird zur Hoffnung, die Hoffnung zur Gewißheit, die Gewißheit zum Dogma. Es war leicht zu erraten, daß die Menschen begierig nach diesem Troste greifen würden. Aber die Sehnsucht nach dieser Chimäre beweist nicht ihre Existenz; wir sehnen uns auch vergeblich nach der Unsterblichkeit des Körpers, warum soll es nicht auch so mit der Seele sein; ist doch die Seele nichts anderes als der Inbegriff unserer Sinne, das Leben, die Vereinigung aller Bewegungen des Körpers, so daß mit dem Tode des Körpers alle Sinne, alle Ideen, endlich auch die Seele stirbt. Wodurch will man uns beweisen, daß diese Seele, die ohne Organe nicht wollen, denken, fühlen, handeln kann, die durch diese Organe lebt, Empfindungen der Freude und des Schmerzes, ja selbst nur Lebensbewußtsein haben wird können, wenn diese Organe zerfallen sind. So stirbt und lebt die Seele mit dem Körper, während des Lebens wird sie von den kleinsten Störungen im Körper berührt, und da will man uns einreden, daß die Seele nach der vollständigen Zerstörung leben, denken und fühlen soll? Welche Lächerlichkeit!

Der Mensch gleicht einer Uhr, die, einmal zerbrochen, zu ihrem Gebrauche untauglich ist. Behaupten, daß die Seele nach dem Tode fühlen, denken, sich

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Veröffentlicht / Quelle: 
Marquis de Sade: Die Geschichte der Justine. 1906
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