Justine oder vom Missgeschick der Tugend - Page 55

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sehr bald. Sie führten Justine hin. »Ist sie das?« fragten sie. – »Eine kleine, grüne Tür, ja, das ist sie.« – »O, meine Herren, laßt mich jetzt fort.« – »Das muß leider sein; wir halten dir unser Wort, hier sind zehn Louis, umarme mich, teures Mädchen.« Ich sollte deine Gunst verlangen, nach der ich mich so lange gesehnt und ich könnte dich strafen für ein Verbrechen gegen die Truppe; aber dieser Fehler beruht auf deiner Tugend und ist daher geringer als der, den wir an jener Person rächen wollen, denn sie hat es aus Interesse getan. »Wenn wir[128] auch Räuber sind, so machen wir auch Unterschied. Adieu, Justine, trachte glücklicher zu werden, als du bisher warst, und betrachte Eisenherz und seine Genossen stets als deine Freunde.«

»Wie wunderbar sind doch die Wege dies Himmels,« sagte Justine, sich entfernend. »Ich will ein Kind von einem Ungeheuer retten, doch ich selbst werde von ihm eingekerkert und er will mich notzüchten. Ich liefere eine meiner Genossinnen der Wut dieser Menschenfresser aus, und dieser Verrat, diese scheußliche Handlung, die ich mein ganzes Leben bereuen werde, verschafft mir Freiheit und Geld und endet meine Sorgen ... Göttliche Gerechtigkeit, sprich verständlicher mit mir oder ich beginne an dir zu zweifeln.« Die Unglückliche entfernt sich. Der Tag bricht an, sie sieht den schwarzen Teich wieder und kommt zu dem Wirtshaus, wo sie drei Monate früher übernachten wollte. Sie frühstückt dort und nimmt die Straße nach Auxerre wieder auf. Es war der siebente August und sie war entschlossen, die Dauphiné aufzusuchen, wo ihre Phantasie den Frieden zu finden hoffte.

Sie hatte ein Stück Weges zurückgelegt, die Hitze begann sie zu belästigen und sie bestieg eine kleine Anhöhe, um sich in dem Walde dort zu einem erquickenden Schlaf niederzulegen; es ist billiger als in einem Wirtshaus und sicherer als auf einer großen Straße. Sie läßt sich am Fuße einer Eiche nieder und nach einem kärglichen Mahle schläft sie ein. Als die Unglückliche nach einem ruhigen Schlummer erwachte, betrachtete sie mit Vergnügen die schöne Umgebung. Aus der Mitte des Waldes, der zur Rechten sich ausdehnte, glaubte sie einen Kirchtum ins Blaue ragen zu sehen. Süße Einsamkeit, du bist sicherlich die Heimstätte einiger frommer, tugendhafter Einsiedler, welche nur Gott und ihrer Pflicht leben. Sicher wohnen alle Tugenden dort und wenn die Schamlosigkeit der Menschen sie von der ganzen Erde vertreibt, so blühen sie sicher in dieser Einsamkeit und in der Mitte dieser glücklichen Menschen, die dort leben, aufs neue auf. Dieser Blick begeisterte Justine umso mehr, als die Frömmigkeit sie nie verlassen hatte. Sie verachtete die Philosophie und ihre falschen Sophismen, sie hielt sie für Auswüchse der Unzucht und widerstrebte ihnen mit ihrem ganzen Herzen und ihrer ganzen Seele und fand immer die Antwort, die sie für richtig hielt. So oft ihr Unglück sie verhinderte, die Pflichten ihrer Religion auszuüben, so holte sie dies immer wieder mit dem größten Eifer ein. Mit diesen Gedanken beschäftigt, fragt sie ein junges Mädchen von sechzehn bis siebzehn Jahren, welches Lämmer hütet, ob dies ein Kloster sei. »Es ist eine Benediktinerabtei,« antwortet die Hirtin, »bewohnt von sechs Mönchen von berühmter Frömmigkeit und Sittenstrenge«. Einmal im Jahr wallfahret Alles zu der wundertätigen Jungfrau und erlangt dort die Erfüllung seiner Wünsche. »Gehen Sie hin, Fräulein, sie werden nicht zurückkommen, ohne sich besser zu fühlen.« Eigentümlich bewegt durch diese Antwort, empfindet Justine den heiligen Wunsch, zu Füßen der gnadenreichen Mutter Hilfe zu erflehen. »Ich werde sie sehen!« ruft sie hierauf. »Ich werde sie[129] anflehen, sie, die das höchste Wesen gewürdigt hat, einen Gott zu gebären. Schnell hin zu ihr, jede Zögerung ist eine Sünde.« Justine will, daß die Hirtin sie begleitet, sie bittet sie darum, ja, sie bietet ihr Geld an. Umsonst. Das Mädchen sagt, sie könne keinen Augenblick abkommen. »Wohlan,« sagt Justine, »so zeige mir wenigstens den Weg.« Die Hirtin beschreibt ihn und versichert ihr, daß sie genügend Zeit habe, um noch früh am Tage hinzukommen; die Hirtin sagt ihr, daß der Abt der ehrwürdigste und heiligste Mann, sie sehr gut empfangen und ihr alle nötige Hilfe gewähren werde. Er heißt Severino, ist ein Italiener und der nächste Verwandte des Papstes.

Er ist milde, ehrbar und hilfreich. Nach diesen Erkundigungen machte sich Justine auf den Weg nach dem heiligen Asyl, wo ihr süßer Trost winkt. Kaum war sie von der Anhöhe herabgestiegen, als sie den Glockenturm sieht. Nachdem sie durch den Wald geht und keinen Führer mehr hat, glaubt sie, daß die Entfernung zu groß ist, aber nichts kann sie entmutigen. Sie setzt ihren Weg in der besten Hoffnung fort, noch vor Anbruch der Nacht einzutreffen. Keine menschliche Spur sichtbar, der Weg mit Gebüsch übersät, scheint nur wilden Tieren zu dienen. Sie hat schon einen großen Weg zurückgelegt, die Sonne war schon untergegangen, als sie endlich eine Glocke klingen hört. Da belebt sich ihre Hoffnung, sie eilt gegen das Geräusch zu und endlich, nachdem sie noch durch eine enge Schlucht hindurch ist, steht sie vor dem Kloster der heiligen Marie vom Walde. Wenn Justine schon das Schloß von Bandole in Schrecken setzte, umso wilder erschien ihr die Umgebung der Abtei. Sie lag in einen breiten, tiefen Tal, von alten Eichen verdeckt, den Blicken der Menschen entzogen. An dem Tore der Kirche läutet sie an. Ein alter Bruder erscheint. »Was willst du?« fragt er sie rauh. – »Kann man nicht den Abt sprechen?« – »Was hast du ihm zu sagen?« – »Eine heilige Pflicht führt mich her; kann ich sie erfüllen? Ich werde mich von allen Mühsalen, die ich ausgestanden habe, um hieher zu kommen, erholen, wenn ich mich zu Füßen des wundertätigen Jungfrauenbildes werfen kann.« Der Bruder entfernt sich und kommt erst nach einer halben Stunde, begleitet von einem zweiten, zurück, denn die Brüder sind beim Nachtmahl. Er stellt seinen Begleiter als Oekonomen Don Clement vor; derselbe kommt, um sich zu erkundigen, ob es der Mühe wert ist, den Abt zu belästigen. Clement, dessen Name mit seinem Aussehen nicht übereinstimmte, war ein Mann von siebenundvierzig Jahren, von gigantischer Figur, mit schwarzem Haar und Bart, finsterem, falschen Aussehen. Er sprach mit

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Veröffentlicht / Quelle: 
Marquis de Sade: Die Geschichte der Justine. 1906
Prosa in Kategorie: 
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