Justine oder vom Missgeschick der Tugend - Page 98

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menschlichen Herzen stets eingeprägt sei; das Resultat dieses Gesetzes ist die absurde Lehre, man möge anderen nichts tun, wovon man nicht wolle, daß es uns geschehe. Dieses lächerliche Gesetz, eine Frucht der Schwäche und Energielosigkeit, konnte nie aus dem Herzen eines tatkräftigen Menschen entspringen; wenn ich aber moralische Prinzipien aufstellen sollte, dann würde ich bei der Schwäche keine Anleihen erheben. Der, welcher sich vor dem Bösen fürchtet, wird immer[225] sagen, man solle es nicht begehen; während derjenige, der über Götter, Menschen und Gesetze spottet, es immer verüben wird. Was not tut, ist zu wissen, welches von beiden wohl tut oder nicht; nun aber scheint mir das kaum fraglich. Ich bezweifle, daß der Tugendhafte mir beweisen kann, er habe bei der Ausübung einer guten Handlung auch nur den vierten Teil des Vergnügens empfunden, das bei einer Freveltat verspürt wird. Werde ich also, bei freier Wahl, das, was mich nicht anregt, dem vorziehen, welchem die heftigste und angenehmste Erregung, die der Mensch verspüren kann, beständig entspringt? Erweitern wir unseren Gedankenkreis; betrachten wir die Gesellschaft im ganzen; wir werden uns leicht die Ueberzeugung verschaffen, daß diejenige die glücklichste ist, die am meisten dem Zustande der Fäulnis verfallen ist, und zwar in jeder Hinsicht. Ich bin weit entfernt davon, mich auf einige spezielle Arten der Verderbnis zu beschränken; ich wünsche nicht, daß man einfach ausschweifend, trunksüchtig, diebisch, gottlos u.s.w. sei; ich verlange, man solle alles versuchen, ganz besonders aber die monströsesten Ausschweifungen, da man nur durch deren möglichst große Ausdehnung zu der Glückshöhe gelangen kann, die durch das wüste Treiben gewährleistet ist. Die falschen Ideen, die wir von den uns umgebenden Geschöpfen haben, sind noch die Quelle einer Unsumme von moralischen Irrtümern; wir schaffen uns phantastische Pflichten gegenüber diesen Geschöpfen; und zwar deshalb, weil diese glauben, sie hätten solche uns gegenüber. Seien wir stark genug, auf das zu verzichten, was wir von anderen erwarten, dann werden wir ihnen gegenüber keine Pflichten haben. Ich frage Sie, was sind denn alle Geschöpfe der Erde gegenüber einer einzigen unserer Begierden? Warum sollte ich mich der geringsten berauben, um einem Geschöpf zu gefallen, das mir nichts ist und mich nicht interessiert? Wenn ich etwas von ihm fürchte, muß ich es gewiß schonen, aber nicht seines, sondern meinetwegen, denn alles, was ich tue, muß ich nur für mich tun; habe ich aber von jenem nichts zu besorgen, dann darf ich sicherlich aus ihm allen erdenklichen Genuß schöpfen und es rein als ein Wesen betrachten, das nur meinetwegen geschaffen wurde.16 Die Moral, um es noch einmal zu wiederholen, ist also fürs Glück unnütz; noch mehr, sie schadet ihm; nur im Schöße der ausgedehntesten, allgemeinsten Verderbnis werden alle Individuen und Gesellschaften das[226] größte Maß von Glück, das auf der Erde denkbar ist, erreichen.«

Wir setzten diese Grundsätze in Taten um und ergaben uns, meine Freunde ebenso wie ich, den raffiniertesten und aufregendsten Ausschweifungen, der Entartung, dem Despotismus und der Grausamkeit.

In dieser geistigen Verfassung befanden wir uns, als man vor mein Tribunal einen sechzehnjährigen Knaben, schön wie die Liebe, brachte; er war angeklagt, seine Mutter zu vergiften versucht zu haben. Die Sache war ganz klar; alle Beweise sprachen gegen ihn. Er wäre unzweifelhaft dem Tode verfallen gewesen, wenn nicht meine Freunde und ich uns über die Mittel beraten hätten, den jungen Menschen aus der Klemme zu befreien; denn wir brannten alle drei vor Begierde, uns an ihm zu ergötzen. Da flüsterte mir meine frevlerische Phantasie einen Weg zu, der nicht nur den Schuldigen rettete, sondern sogar einen Unschuldigen dem Verderben weihte. – »Wo,« fragte ich den Angeklagten, »wo ist jetzt das Gift, mit dem du, wie es heißt, den Mord versucht hast?« – »Es befindet sich in den Händen meiner Mutter.« – »Nun gut! Erkläre bei der letzten Verhandlung, daß im Gegenteil sie es war, die es auf dein Leben abgesehen hat; du willst, sie solle zugrunde gehen, es wird geschehen; bist du zufrieden?« – »Außerordentlich, mein Herr! Ich haße dieses Weib und möchte lieber sterben, um sie nur mit ins Verderben zu reißen.« – »Gib als Beweis das Gift an, das sie in Händen hat.« – »Jawohl; aber man weiß, das ich es mir bei dem Apotheker dieses Ortes verschafft habe; man weiß von den Schwierigkeiten, die er mir machte, und von der Art, wie ich es bekam; ich sagte ihm nämlich, ich kaufe dieses Gift nur auf Befehl meiner Mutter, die die Ratten im Hause vertilgen wolle.« – »Spricht sonst nichts gegen dich?« – »Nein.« – »Nun also! ich bürge dir für dein Leben und den Tod deiner Mutter« – Ich lasse den Apotheker holen. Ich sage ihm, er möge sich hüten, gegen diesen Knaben belastend auszusagen; es sei offenkundig, daß er das Arsen auf Befehl seiner Mutter bei ihm gekauft habe; es befindet sich heute in den Händen der Mutter; sie hätte ihn töten wollen, wir wären davon überzeugt; eine gegenteilige Aussage würde ihm Verderben bringen. – »Aber habe ich nicht in jedem Falle unrecht?« fragte der Apotheker. – »Nein; es ist nichts einfacher, als den Wünschen einer Familienmutter und Hausbesitzerin nachzukommen; Sie konnten ihre Absichten nicht voraussehen. Wohl aber würde es Ihnen schlecht bekommen, wenn Sie die des Knaben erfüllt hätten.« – Der Droguist, dem diese Gründe einleuchteten,[227] sprach meiner Instruktion gemäß; auch der Knabe blieb bei der Aussage, die ich ihm suggeriert hatte; die unglückliche Mutter, von diesen Verleumdungen erdrückt, fand keine Entgegnung und starb auf dem Schaffot, während wir ihren Tod betrachtend mit ihrem Sohne in der wollüstigsten Weise sodomisierten. Ich werde nie vergessen, wie ich, von Bonifacio bearbeitet, im selben Augenblicke in den Hintern des Knaben entlud, da seine Mutter starb. Die Art, mit der dieser reizende Jüngling sich unseren Vergnügungen preisgab, die Freude, die auf seiner Stirne erglänzte, als er die Zurüstungen zur Hinrichtung seiner Mutter sah, all das gab uns so gute Begriffe von seinen Anlagen, daß wir Beiträge zusammensteuerten, um ihm seinen Lebensweg zu sichern und ihn nach Neapel zu schicken, wo die Jahre, die seine Grundsätze reiften und vervollkommneten, ihn sicherlich zu einem der kühnsten Mißetäter Europas haben heranwachsen lassen.

»Welch eine Untat!«

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Veröffentlicht / Quelle: 
Marquis de Sade: Die Geschichte der Justine. 1906
Prosa in Kategorie: 
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