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sollte, so konnte sie keine Minute länger alleine in den eigenen vier Wänden bleiben. Auf dem Weg zur Haltestelle begegnete sie keinem Menschen und nur in den Lichtkegeln der Straßenlaternen konnte sie sehen, dass es zu schneien begann. Die Kälte überzog den Fußgängerweg mit einer dünnen Schicht aus Eis, sodass Sophie nur sehr langsam vorwärts kam. Sie versuchte das Gleichgewicht zu halten, um einen Sturz zu vermeiden, da sie nicht wollte, dass ihr neuer Mantel gleich mit ihr zusammen im Matsch liegen würde. Die Haltestelle war nicht mehr weit von ihr entfernt und bis die Straßenbahn kommen würde, war noch etwas Zeit. Sie beschloss beim Bäcker einen Becher Kaffee und paar Brötchen zu kaufen. Sophie wollte auch für Katherine etwas zum Frühstück mitnehmen und da sie wusste, wie gern sie Nussecken aß, kaufte sie gleich drei Stück davon. An der Kasse stand ein junger Verkäufer, der sofort offen Interesse an Sophie bekundete. Er machte ein paar anstößige Bemerkungen und hoffte dadurch ihre Nummer bekommen zu können. Ihr war es oft lästig, ständig von irgendwelchen Typen angemacht zu werden. Es gab keinen dummen Spruch, den sie noch nicht kannte und wenn sie schließlich einmal nachgab, um sich mit jemandem zu verabreden, stellte sich heraus, dass die Meisten entweder nur platonische Absichten verfolgten oder aber nicht mit Sophies Persönlichkeit zurechtkamen. Es fiel ihr zudem schwer, Vertrauen für eine längere Beziehung aufbauen zu können. So blieb sie lieber alleine, bevor jemand ihr Herz brechen würde. Was sie wohl noch tiefer in Depressionen gestürzt hätte. Mittlerweile hatte sie sich schon an die plumpen Anmachsprüche oder gar sexuellen Angebote von Gleichaltrigen, aber auch wesentlich Älteren gewöhnt. Selbst manche ihrer männlichen Patienten schreckten nicht davor zurück, ihr hin und wieder einen Klapps auf den Po zu geben. Dr. Kollwitz musste die Leute dann immer aus der Praxis verweisen, was Sophie zunehmend peinlicher wurde, da sie sich alleine oft nicht zu wehren wusste. So verzichte sie meistens darauf, von diesen Vorfällen zu berichten und ließ die gelegentlichen Belästigungen einfach über sich ergehen. Katherine hatte dafür kein Verständnis und wies solche Patienten immer harsch zurecht, die gegenüber Sophie zu aufdringlich wurden. Alles in allem war das Leben in der Stadt für Sophie nicht der Neuanfang, den sie sich erhoffte. Aus einer lieblosen Familie in eine lieblose und unbekannte Umgebung zu ziehen, hat ihre psychischen Probleme sogar noch schlimmer werden lassen. Sie hasste die Oberflächlichkeit zwischen den Menschen, die Anonymität der Nachbarschaft und die auf Leistung und Optimum getrimmte Gesellschaft, die sie nun ständig um sich hatte. Doch zurück zu ihrer Mutter ziehen wollte sie auf keinen Fall. Zu frisch waren noch ihre Wunden und zu tief die Verachtung, die sie von ihren Eltern erfahren musste. Lieber versuchte sie alleine ihr Leben in geregelte Bahnen zu bekommen und mit einer guten Arbeit und eigenen Wohnung war sie auf dem besten Weg dahin. So hoffte Sophie an diesem Tag, Katherine wieder sehen zu können. Sie würde sich bei ihr für all die Hilfe und Liebe bedanken wollen, die sie ihr stets zuteil kommen ließ. Das wäre Sophie wieder einmal bewusst geworden, als Katherine nicht da war.
7
Am Horizont vertrieben erste Sonnenstrahlen den dunklen Wintermorgen und langsam füllten sich die Straßen der Stadt mit Lärm und Leben. Sophie, die gerade auf der Arbeit angekommen war, schaltete als erstes den Radio ein. Sie wollte sich von der noch vorherrschenden Stille abwesender Patienten ablenken, bevor um sie herum der Trubel wieder beginnen würde. So bekam sie zunächst nicht mit, dass Dr. Kollwitz sie bereits mehrmals vergeblich auf dem Handy zu erreichen versuchte. Erst nachdem er es unter der Praxisnummer versuchte, konnte Sophie es klingeln hören, da das Telefon direkt neben der Rezeption stand, an der Sophie gerade Termine für die nächsten Tage in den Patientenplaner eintrug. Sie nahm den Hörer ab und ohne dabei auf die angezeigte Nummer zu achten, die ihr eigentlich sehr gut bekannt gewesen war, antwortete sie freundlich:
„Guten Morgen. Zahnarztpraxis Dr. Kollwitz, Sophie Basdeki am Apparat.“
Vom anderen Ende der Leitung kam ihr zunächst nur unverständliches Gestammel entgegen:
„So…Soph… hier is…ist Roo…Roo…Ko…Kooll.“
Es war anscheinend Dr. Kollwitz, dem etwas so aufzuregen schien, dass sein Asthma wieder in Erscheinung trat. Da er nur schlecht Luft bekam, entgegnete Sophie gleich, ohne zunächst konkreter nachzufragen:
„Herr Dr. Kollwitz, ganz ruhig. Atmen Sie erstmal tief ein und wieder aus und dann erzählen sie mir, was los ist.“
Schon im nächsten Moment hörte sie nur noch das typische Piepsen, das es machte, wenn der Gesprächspartner den Hörer auflegte. Zunächst dachte sich Sophie nicht viel dabei, denn sie musste bereits einige Male miterleben, wenn Dr. Kollwitz mit seinem Asthma Probleme hatte. Was häufig an sehr stressigen Tagen der Fall war. Aber auch, wenn er sich mal wieder über unsittliche Patienten aufregen musste, die Simone oder Sophie belästigten. Seine Anfälle konnten sogar oft so schlimm werden, dass er ohne sein Asthmaspray regelrechte Erstickungsängste bekam. Sein Gesicht färbte sich dann zunächst blutrot und kurz darauf wurde es kreidebleich. Sophie widmete sich erneut ihrer Büroarbeit und bereits einige Minuten später klingelte es wieder. Dieses Mal war es jedoch nicht das Telefon, sondern die Glocke über dem Eingangsbereich. Dr. Kollwitz, der anscheinend seinen Schlüssel vergessen hatte, stand mit vor Atemnot erbleichtem Gesicht draußen vor der Tür. Als Sophie ihn hereinlassen wollte, packte er sie gleich am Arm und keuchte mit hektischer Stimme:
„Soph… ie… ko... kommen… Sie… gleich… mit!“
Da er sich von Sophies Worten zunächst nicht beruhigen ließ und er gleich zu ersticken drohte, entschied sich Sophie mit ihm mitzukommen. Sie schloss die Praxis ab und ging mit ihm zu seinem Wagen. Erneut fragte sie:
„Ich weiß immer noch nicht was los ist. Wo fahren wir denn überhaupt hin?“
Ihr war klar, dass sie keine Antwort von ihm erhalten würde, solange er sich nicht endlich beruhigen würde. Gerade als sie in sein Auto stiegen und Dr. Kollwitz losfahren wollte, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und riss ihm den Autoschlüssel aus der Hand. Dieses Mal forderte sie mit schärferem Ton:
„Wir fahren erst los, wenn sie ihr Spray aus der Tasche holen, einen kräftigen
Leseprobe aus: Schwarzes Kolorit